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Eßgestörte Frauen ohne Lobby

■ Die Waage in Eimsbüttel steht vor dem finanziellen Kollaps / Hamburg ohne niedrigschwellige Beratungsstelle für Zehntausende Betroffene

in Eimsbüttel steht vor dem finanziellen Kollaps / Hamburg

ohne niedrigschwellige Beratungsstelle für Zehntausende Betroffene

Sie stehen nicht am Bahnhof und lassen sich in ihrem Leid besichtigen, sie torkeln auch nicht durch die Fußgängerzonen dieser Stadt. Wohl deshalb wird ihre Krankheit amtlicherseits kaum zur Kenntnis genommen. Dabei gibt es nach Schätzungen der hamburgischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren 40000 behandlungsbedürftige Frauen und Mädchen mit manifesten Eßstörungen. Sie leiden unter Eßsucht (Adipositas), Eß- Brech-Sucht (Bulimie) oder Magersucht (Anorexia nervosa). Und sie werden damit ziemlich allein gelassen. Die einzige niedrigschwellige Beratungsstelle für Frauen mit Eßstörungen, die „Waage“ in Eimsbüttel, steht vor dem Aus.

Zum Vergleich: In Hamburg gibt es etwa 10000 Junkies, und das Angebot an speziellen Beratungs- und Behandlungsstellen für diese Klientel ist kriminell dürftig. Trotzdem: Zum dünnen Angebot gehören fünf bis acht (je nach Definition) niedrigschwellige Beratungseinrichtungen im Stadtgebiet. Und deren Finanzierung steht auf relativ stabilen Füßen.

Die „Waage“ dagegen hangelt sich seit 1991 durch das ABM- Netz. Frauen aus dem Trägerverein helfen und beraten mit, doch das Zentrum der betriebswirtschaftlichen Sicherheit besteht aus zwei ABM-Stellen. Die sollen zum Ende April auslaufen. Danach könnte es im wahrsten Sinne des Wortes zappenduster in der „Waage“ werden, denn alles hängt derzeit an der ABM-Finanzierung: Wassser, Strom, Miete und natürlich die Personalkosten für die Beraterinnen Barbara Storm und Gertrud Wiedemann.

Daß die Bundesanstalt für Arbeit heftigst an „Beschaffungsmaßnahmen“ für eben diese herumstreicht ist hinlänglich bekannt. Daß dadurch Riesenlöcher ins soziale Netz gerissen werden, ebenfalls. Daß sich die „Weltstadt Hamburg“ offenbar einen weißen Fleck auf der Landkarte der dringlichsten Beratungsangebote leisten will, erstaunt aber selbst in diesen harten Zeiten.

Doch es hilft kein Staunen, in den Senatsämtern der Hansestadt ist offenbar niemand für die „psychosomatische Krankheit mit Suchtcharakter“ (Getrud Wiedemann) zuständig. Anträge des „Waage-Vereins“ auf finanzielle staatliche Absicherung des Beratungsangebots wurden von Büroboten von Dienstzimmer zu Dienstzimmer, von Amt zu Amt, von Senatsbehörde zu Senatsbehörde getragen. Das Ergebnis: keine Reaktion!

Inzwischen existiert beim Amt für Gesundheit (zuständiger Senator: Ortwin Runde) ein Standardbrief, der auf jede neue „Waage“- Anfrage und auf Solidaritätsschreiben anderer Einrichtungen aus dem Computer abgerufen wird. Darin heißt es lapidar: „Eine Finanzierung der Beratungsstelle aus Hamburger Haushaltsmitteln ist leider nicht möglich. Vielmehr fällt nach unserer Auffassung die Finanzierung in das Regelleistungswerk der Krankenkassen.“

Das ist wahr und trotzdem nicht richtig. Auch die Entgiftung von Alkohol- und Medikamentenabhängigen gehört in das finanzielle Regelleistungswerk der Krankenkassen, und trotzdem halten nicht nur freie Verbände und kirchliche Organisationen ambulante Beratungsstellen vor. Auch die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (BAGS) betreibt mehrere niedrigschwellige Einrichtungen. Die dort tätigen Berater sind Angestellte der Stadt Hamburg!

Aber was für Junkies, Alkis und Tablettos gilt, wird den Eßstörungs-kranken Frauen in Hamburg verweigert. Sie sorgen schließlich nicht für knallige Schlagzeilen, sie funktionieren auch meist in der Arbeitswelt — werden volkswirtschaftlich erst einmal nicht zum Kostenfaktor. Darum haben sie kaum eine Lobby. Sich selbst können sie schwerlich zur Interessenvertretung zusammenschließen. Denn mindestens eines ist allen Suchtkranken gemeinsam, die Vereinzelung. Und auch die Scham.

Gerade wegen dieser Schamschwelle, die es zu überwinden gilt, existieren in der Suchtkrankenhilfe die sogenannten „niedrigschwelligen“ Angebote. Aber eßgestörten Frauen wird gemeinhin zugemutet, allgemeine Beratungsstellen aufzusuchen. Sie müssen sich mit Suchtkranken jedweder Couleur gleichstellen, bevor sie selbst ihr individuelles Problem begriffen haben. Hinzu kommt, daß in vielen Multi- Beratungsstellen noch nicht das nötige Spezialwissen vorhanden ist. Deshalb schulen die „Waage“- Frauen auch Beraterinnen, doch auch damit könnte es bald vorbei sein.

Außer in der „Waage“ gibt es nur in ganz wenigen Beratungseinrichtungen echte Fachfrauen zum Thema. So zum Beispiel bei BIFF Eimsbüttel (436399), Die Boje Billstedt (7314949), Die Brücke in Wandsbek (668-3636/7/8) oder der Frauenberatungsstelle Kattunbleiche (6527711). Hinzu kommen noch Selbsthilfegruppen. Die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS) bietet sogar eine Eßsprechstunde „Dick und Dünn“ an (2517757). Die Overeaters Anonymous (AO) funktionieren nach den Prinzipien der „Anonymen Alkoholiker“.

All das läuft schwerlich unter der Parole „niedrigschwellig“. Bei der „Waage“ können Betroffene anrufen und sich während der Sprechstunden (montags 10 bis 13 Uhr und donnerstags 16 bis 19 Uhr) ersten telefonischen (4914941) oder persönlichen Rat holen (Waage e.V., HH 20, Schopstr. 1/Eingang Rombergstraße).

Sollte die „Waage“ aus dem Beratungsangebot verschwinden, würden noch mehr eßsüchtige Frauen in den großen Suchttopf der allgemeinen Beratungsstellen geworfen. Das ist inhaltlich nicht geboten. In der Suchtarbeit gelten ein großes und ein kleines Ziel: Die Abstinenz von legalen und illegalen Rauschmitteln beziehunsgweise die Substitution von illegalen Drogen. Doch

1weder Abstinenz noch Substitution sind bei Eßstörungen angezeigt. Immerhin sind die Vehikel der eher prozeßgebundenen Sucht lebensnotwendige Nahrungsmittel!

In der Beratungsarbeit mit Eßgestörten geht es nicht um das „Trockenlegen“ — es geht zuallererst um das Durchschauen des Suchtprozesses. Um Dinge also, die bei stofflich abhängigen Menschen (wie Alkoholikern oder Junkies) erst weit nach der Entgiftung möglich werden. Und es geht um Akzeptanz des eßsüchtigen Verhaltens, um Abbau der Scham.

Diese „akzeptierende Arbeit“

1sollte nicht vorschnell mit der „akzeptierenden Drogenarbeit“ verwechselt werden. Letztere schafft Junkies im Feld der Illegalität Lebensraum. Erstere verschafft eßgestörten Frauen erste Befreiungen aus ihren individuellen Verstrickungen.

Am Beginn des mühsamen Weges aus dem Netz dieser Verstrickungen bietet die „Waage“ Einzelgespräche, Gruppengespräche und (kurzzeitig angeleitete) Selbsthilfegruppen an. Dabei wird versucht, ehemalige Klientinnen in die Beratungs- und Gruppengespräche einzubinden. Wer nämlich den Sucht-

1prozeß aus eigener Erfahrung kennt, versteht ihn auch bei anderen besser. Schließlich sind auch die „Waage“-Beraterinnen nicht zufällig in das Arbeitsfeld gegangen. Sie sind ehemalige Eßsüchtige.

Damit sie ihr Wissen und ihr Problemverständnis weiterhin in den Dienst noch leidender Frauen stellen können, muß erst einmal ein hanseatisches Behördenwunder geschehen: eine schnelle und unbürokratische Finanzierungslösung — unabhängig vom Arbeitsamt. Die Zeit drängt, die ABM-Finanzierung läuft in sieben Wochen aus! Jürgen Oetting

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