: Der Niedergang des russischen Präsidenten Boris Jelzin beschleunigt sich. Am gestrigen Freitag begnügten die Volksdeputierten sich nicht damit, das Referendum abzubügeln, sondern stimmten auch für weitere Beschränkungen Jelzins. Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Boris Jelzins letzter Aufruf
Zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem Volksdeputiertenkongreß ist das Ende jeden Dialogs gekommen. Zahllose Versuche des Präsidenten, die aufmüpfige Legislative doch noch zum Einlenken zu bewegen, schlugen gründlich fehl. Rußlands Volksdeputierte taten gerade so, als gäbe es ihn gar nicht, den Präsidenten Rußlands — ihren Präsidenten. Schließlich hatte das Volk ihn in freien Wahlen gewählt. Die Deputierten zeigten einmal mehr, wessen Kind sie wirklich sind. Unbelehrbare, grantige und inkompetente Befehlsempfänger einer längst abgetretenen Epoche, denen es nach Rache gelüstet.
Die Position des Präsidenten wurde entscheidend geschwächt, daran gibt es keinen Zweifel mehr. Doch hinterließ der Kongreß des höchsten Gesetzgebers des Landes wie schon dessen vorangegangene Sitzung im Dezember ein Paradox. Die Figur des Präsidenten wird langsam demontiert. Das Lager der Abbrucharbeiter erweist sich hingegen unfähig, eine akzeptable Figur aus den eigenen Reihen auch nur vorzustellen. Mit Alternativkonzeptionen, die mehr als nur nominellen Machtzuwachs beinhalten, wartete keiner auf. Die gedankliche Blässe ist erschreckend. Das Paradox hat noch eine weitere Ebene: Eigentlich bräuchte Rußland gerade jetzt einen starken Präsidenten, der die mannigfaltigen Desintegrationsprozesse aufhalten oder sie zumindest steuern könnte. Verwerfungen in der sozialen Sphäre und Loslösungstendenzen autonomer Republiken und Regionen in der Russischen Föderation fordern schnelle und behutsame Antworten.
Der Pyrrhussieg der Legislative, die die Desintegration des Landes und die sozialen Härten ständig auf den Lippen führen, wird an dem Übel nichts ändern. Die Machteinbuße der Exekutive führt nicht automatisch zur Kompetenzsteigerung der Legislative auf den verschiedenen Gebieten. In der Konsequenz gehen beide Gewalten aus dem Kräftemessen als Verlierer hervor.
Jelzin hat empfindliche Blessuren einstecken müssen, doch wird der Präsident sich noch nicht zur „Königin von England“ degradieren lassen. Optionen, ein Referendum auf eigene Faust durchzuführen, hält er sich offen. Voraussichtlich soll das schon am 25. April stattfinden. Natürlich ist damit ein Unsicherheitsfaktor verknüpft. Werden genügend Russen, die heute andere Sorgen haben und von der Politik gründlich enttäuscht sind, übehaupt daran teilnehmen? Am Volksdeputiertenkongreß zeigte die Bevölkerung mehrheitlich kein Interesse. Jelzin will diesmal nur zwei Fragen stellen, die klären sollen: Wird Rußland eine Parlamentarische — oder eine Präsidialdemokratie und wollen die Russen Privatbesitz an Grund und Boden?
Lassen sich nicht genügend Wähler mobilisieren, wäre das Jelzins endgültige Niederlage. Andererseits könnte ein Referendum noch einmal die aktiven Schichten der Bevölkerung auf den Plan rufen. Gerade jene, die aus den Reformen schon Kapital geschlagen haben. Damit spekuliert Jelzin wohl, und dann wäre der Ausgang relativ klar. Für ein parlamentarisches System werden sich die Russen nicht entscheiden, da die Parteien nur eine marginale Rolle spielen und auf keiner sozialen Basis fußen. Außerdem haben die Sitzungsperioden des Volksdeputiertenkongresses bei den meisten Bürgern nachhaltige Aversionen hervorgerufen. Mag die Landbevölkerung der politischen Komponente des Plebiszits gleichgültig gegenüberstehen, so wird sie sich andererseits die Chance nicht entgehen lassen, für eine Privatisierung des Bodens zu votieren.
Bisher haben die Statthalter des alten Systems, die Sowchos- und Kolchosvorsitzenden, die längst überfällige Reform blockiert. Nicht zuletzt zählt die Fraktion der „roten Junker“ zu den reaktionärsten im Volksdeputiertenkongreß.
Will Jelzin das Ruder noch rumreißen, scheint der Weg über ein Referendum am ehesten realisierbar, denn Neuwahlen würden eine viel zu lange Vorbereitungsphase erfordern. Und dann wäre immer noch nicht geklärt, auf welcher Grundlage sie stattfinden sollen. Die Rumpf- und Molekülparteien sind keine geeigneten Medien. Das Prinzip der Wahlen zu den alten Sowjets entspricht nicht den schon vollzogenen Veränderungen in der Gesellschaft und böte den alten Kräften in der Provinz die Chance zu übergebührlicher Repräsentation.
Alle anderen Varianten, die in den letzten Wochen vom Präsidenten und seinem Stab erwogen wurden — inklusive der Verhängung eines Ausnahmezustands —, sind riskante Unternehmen, die letztlich der Opposition in die Hände spielen. Zwar mag die Armee in ihren Spitzen mit einer autoritären Entwicklungsvariante liebäugeln, die sie als gesellschaftlichen Faktor wieder aufwertet. Zumal ihr nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Reihe Demütigungen widerfahren ist. Doch die Armee stellt keinen homogenen Block mehr dar, gerade in ihren mittleren Rängen nicht. Sich auf die Armee zu stützen, würe nachhaltig einen Bruch der Gesellschaft provozieren.
Auch ansonsten richtete es nur Schaden an. Es würfe Rußland zurück in die Ausweglosigkeit seiner Geschichte, auf seine lange qualvolle Tradition autoritärer Herrschaft. Was bisher an Ansätzen einer „zivilen Gesellschaft“ entstanden ist, würde zwangsläufig weichen. Auch die demokratischen Kräfte müßten und würden sich von einem derartigen Notstandssystem abwenden. Zudem ließen sich die Konsequenzen auf der internationalen Ebene nicht abschätzen. Erst jetzt, auf dem Kulminationspunkt der innenpolitischen Krise in Moskau, rührt sich wieder etwas im Westen. Ein autoritäres Regime, auch unter Vorgabe einer Demokratisierungsstrategie, könnte im Westen nicht mit Zuspruch rechnen.
Eine Entwicklungsdiktatur, die die Marktwirtschaft auf ihre Fahnen geschrieben hat, birgt in Rußland noch eine andere Gefahr. Über kurz oder lang würde sie mit Tendenzen vermengt, die wieder Rußlands „Sonderrolle“ in den Vordergrund stellen möchten. Eine kontrollierte Abschottung gegen Einflüsse aus dem Westen. Die Supermachtrolle gewänne wieder Priorität gegenüber innenpolitischen Strukturmaßnahmen. Nicht zuletzt würde an alten traditionellen Bündnissen festgehalten. Schon jetzt pflegt ein Großteil der Deputierten des Kongresses und dessen außenpolitischer Ausschuß diese Position.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird Jelzin daher seine Variante des Referendums durchziehen. Bessere Optionen stehen ihm nicht zur Verfügung und die Zeit drängt. Die Veränderungen an den Wurzeln der Gesellschaft lassen sich nur schwer rückgängig machen. Hierin liegt eine gewisse Garantie für den Erfolg des Plebiszits. Die Bergarbeiter aus dem Kusbassbecken und Workuta im hohen Norden haben dem Präsidenten nach der demütigenden Niederlage ihre Unterstützung zugesagt und im Notfall Streikmaßnahmen angedroht.
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