: "Gewalt soll nur von der Straße weg"
■ "Wildwasser", "Autonomes Mädchenhaus" und "Kind im Zentrum": Drei Projekte für sexuell mißbrauchte Minderjährige in Gefahr / Laut Jugendsenator Thomas Krüger ist noch nichts entschieden
Berlin. „Das Sonderprogramm gegen Gewalt ist absurd“, befindet Conny Reszat vom „Autonomen Mädchenhaus“, „wenn die Schutzräume für die Opfer nicht gesichert werden.“ „Die Gewalt soll nur von der Straße weg“, glaubt auch Barbara Kavemann von „Wildwasser“. Die Mitarbeiterinnen beider Projekte, die mit sexuell mißbrauchten Mädchen arbeiten, zeigen sich verbittert darüber, daß sie bisher weder etwas von dem Sonderprogramm des Senats abbekommen sollen, noch auf andere Weise ihre wegfallenden ABM- Stellen ersetzt werden.
Für das seit zehn Jahren bestehende Projekt „Wildwasser“ bedeutet das, daß seine Zufluchtswohnung für Mädchen von Schließung bedroht ist, da zweieinhalb ABM-Stellen im Dezember und März ausgelaufen sind. Die Arbeit sei mit den anderen Mitarbeiterinnen nicht mehr zu schaffen, weil die vor sexueller Gewalt geflüchteten Mädchen mit all ihren Symptomen wie Drogenmißbrauch, Suizidgefährdung oder Eßstörungen rund um die Uhr betreut werden müßten.
Noch absurder finden die „Wildwasser“-Frauen, daß ihre nagelneue Beratungsstelle in Ostberlin, in die rund 800.000 Mark investiert wurden, nach ihrer Eröffnung im Juni wahrscheinlich schon Ende August wieder dichtmachen muß, weil sechs ABM-Stellen nicht verlängert wurden. Auch beim „Autonomen Mädchenhaus“ werden drei jetzt auslaufende ABM-Stellen nicht verlängert, so daß dort ebenfalls die Rundumbetreuung der Mädchen inklusive der Termine bei den verschiedenen Behörden gefährdet ist.
Beide Projekte fordern Ersatz durch feste Stellen. Zum einen sei die Arbeit seit der Vereinigung enorm angestiegen: „Viele Mädchen flüchten seitdem aus der Provinz in die Großstadt.“ Bisher hätten sie im „Mädchenhaus“ oder bei der Übergangseinrichtung von „Wildwasser“ Unterkunft gefunden, aber seit dem ABM-Stopp könne „Wildwasser“ keine Neuankömmlinge mehr betreuen. Zum anderen aber, das ist Barbara Kavemann als langjähriger wissenschaftlicher Begleiterin des Projektes sehr wichtig, „brauchen solche Mädchen Personen, an die sie sich binden können“. Beratungsarbeit benötige personelle Kontinuität.
Die FPD-Chefin Carola von Braun und Bundesfrauenministerin Angela Merkel (CDU) haben sich in Briefen an SPD-Jugendsenator Thomas Krüger bereits für das Projekt stark gemacht. Womöglich finde sich noch eine Lösung, es sei ja noch nichts entschieden, so Thorsten Schilling, Pressesprecher des Senators, zur taz. Nach den Bonner Beschlüssen über Solidarpakt und Nachtragshaushalt müsse nun erst geprüft werden, ob die betreffenden ABM-Stellen womöglich anders finanziert werden könnten. „Wir werden prüfen, wieviel Mittel wir dann haben und wer was kriegt.“ Die drohende Schließung der Beratungsstelle kurz nach ihrer Eröffnung sei leider „kein Einzelfall“. Nach Meinung des Senators sei „Wildwasser“ „ein wichtiger Träger, aber nicht der einzige“. Eine Weiterförderung in geringerem Umfang sei wahrscheinlich.
Auch die erst im August 1991 in Mitte eröffnete Beratungsstelle von „Kind im Zentrum“ für sexuell mißbrauchte Kinder und ihre Familien wird ab kommendem Sommer vermutlich nur noch mit einer Stelle auskommen müssen. Die übrigen vier Stellen sind ABM- Stellen, über deren Verlängerung noch nicht entschieden ist. Die Arbeit in der Charlottenburger Beratungsstelle läuft ebenfalls zur Hälfte über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. „Dann können wir ab Sommer nicht einmal halb so viele Beratungen machen und müssen die Beratungsstelle in Mitte schließen“, sagt Mitgründerin Sigrid Richter-Unger.
Gerade im Ostteil der Stadt sei KiZ jedoch für viele der einzige Anlaufpunkt. Die wenigen Familienberatungsstellen seien schlecht ausgestattet. Niedergelassene Psychologen gibt es kaum, und die Jugendämter rufen oft selbst bei KiZ an. Sexuelle Gewalt in Familien habe es im Osten genau wie im Westen gegeben. Sie sei aber totgeschwiegen worden.
Im letzten Jahr gingen bei KiZ 1.275 Neuanfragen ein, in diesem Jahr waren es schon 250. „Wir waren schon 1992 überlastet und mußten viel weitervermitteln“, sagt Richter-Unger. Etwa 130 Kinder und Jugendliche sowie 170 Erwachsene wurden in langfristigen Therapien begleitet.
KiZ arbeitet mit den ganzen Familien. „Wir gehen davon aus, daß sexueller Mißbrauch alle Familienmitglieder betrifft, auch die duldende Mutter und die verunsicherten Geschwister“, sagt Pädogoge Jürgen Lemke, der mit mißbrauchenden Männern arbeitet. Wo es bei den Kindern darum ginge, ihnen Schuldgefühle zu nehmen und sie „nein“ sagen zu lehren, müßten diese Männer erst einmal die Verantwortung für die Tat übernehmen. „Dann müssen wir Ordnung in die Köpfe bringen. Viele denken, wenn ihre Kinder nackt durch die Wohnung laufen, sei das eine Aufforderung zum Zugreifen.“
Er hat für diese sensible Arbeit eine Zusatzausbildung zum Familientherapeuten gemacht. Auch die anderen Mitarbeiter haben sich ständig fort- und weitergebildet. Wenn seine Stelle im Sommer ausläuft, wäre für seinen Nachfolger wieder eine mühsame Einarbeitung fällig. usche/cor
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