■ Rußland am Vorabend seiner Selbstreinigung: Abgesang der mediokren Oligarchen
Um es gleich vorwegzunehmen: In Rußlands Verfassungsstreit geht es nicht um ein mehr oder weniger an Demokratie – oder gar um ein politikförderliches Gleichgewicht zwischen den Gewalten. Rußland ist keine Demokratie und wird es auf lange Sicht auch noch nicht werden. Überlegungen, die sich unter dem Aspekt einer Politik durch Verfahren, der institutionalisierten Regulierung gesellschaftlicher Konflikte, dem Moskauer Geschehen nähern, müssen zwangsläufig in die Irre führen. Die Suche nach dem „besseren Demokraten“ macht hier keinen Sinn, wo es um die blanke Macht geht. Dennoch steht die Perspektive eines fernerhin demokratischeren Rußlands auf dem Spiel, sollten Jelzins Widersacher wider Erwarten doch noch die Oberhand gewinnen. Mittlerweile sind ihre Erfolgsaussichten jedoch marginal.
Was hätten sie, die Konservativen, anzubieten? Ein Rußland à la Latino americana. Eine Oligarchie, die sich schamlos bereichert. Ein nach innen repressives politisches Regime, wirtschaftlich scheinbar offen, außenpolitisch eine Neuauflage imperialen Hegemoniestrebens. Das möchte in Rußland kaum einer noch, nicht einmal die, denen der Verlust der Weltmachtrolle schwer zu schaffen macht – vornehmlich die ältere Generation. Wenn das Verfassungsgericht in seinen demokratischen Fingerübungen gestern Jelzins angekündigte Präsidialherrschaft für teilweise verfassungswidrig erklärt, kreischt danach kein Hahn in Rußland. Zum einen, weil die demokratische Tradition fehlt. Zum andern, weil man weiß, wessen Kind dieses Urteil ist. Und nicht zuletzt, weil der gesamte Vorgang absurd ist. Denn das Gericht urteilte auf der Grundlage einer Fernsehansprache des Präsidenten. Mehr hielt es zur Beweisführung nicht in der Hand. Ja, wo gibt's denn so was? Das Gericht mußte reagieren, weil es sich zu weit aus dem Fenster gehängt hatte. Seit gestern dienen alle Aktionen der Jelzin-Gegner nur noch einem Ziel: das Gesicht zu wahren, um den Gang zum Fleischtopf offenzuhalten.
Die übereilige Reaktion der Reaktion hat eins gezeigt: Die Opposition war heiß, ein Putsch wäre ihr gerade recht gekommen. Nun ist sie Jelzin ins Messer gelaufen, und ihre Tage sind gezählt. Die politische Landschaft wird sich selbst bereinigen. Den Rest erledigt das Volk im Referendum. Es wird Jelzin sein Vertrauen aussprechen. Zweifel daran sind nicht mehr zulässig. Denn die Russen haben nur Respekt vor Leuten, die man fürchten muß. Jelzin hat die Opposition das Fürchten gelehrt. Die Russen brauchen das. Nach wie vor bleibt er der einzige „Muschik“ – ein echter Mann. Demokratische Spielregeln hin oder her... Klaus-Helge Donath, Moskau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen