: Von den Dritte-Welt-Studiengängen der DDR blieb wenig
■ Die als politisch belastet geltenden „Regionalwissenschaftlichen“ Zentren der DDR wurden beinahe komplett abgewickelt/ Nur die Humboldt-Uni arbeitet weiter
Berlin. „Ich muß mich für dieses Institut nicht schämen!“ Wut und Bitterkeit stehen Peter Stier ins Gesicht geschrieben. Ehemals Leiter des „Institutes für Ökonomik der Entwicklungsländer“ sitzt der Professor heute im 7. Stock der abgewickelten Hochschule für Ökonomie (HfÖ) in Karlshorst. Die neu eingezogene Fachhochschule für Technik und Wirtschaft hat die letzten HfÖ-Professoren in die obere Etage verdrängt. Während drunten alles renoviert und frisch gestrichen daherkommt, versinkt man in Stiers Büro im DDR-Linoleum und den kreisenden Erklärungen des leitenden Hochschulkaders.
Er und seine 20 Kollegen befaßten sich mit den „inneren Bedingungen der Entwicklungsländer“. In den letzten zehn Jahren hätten sie „die Intensität der kapitalistischen Entwicklung in der Dritten Welt“ erforscht. Das sei die vorgegebene Fragestellung gewesen, fügt Stier hinzu. Fast meint man, er wolle mit diesem Nachsatz einen Hauch abweichender Haltung dokumentieren. Dabei bestimmte Stier von der „wissenschaftlichen Leiteinrichtung“ HfÖ aus entscheidend die Themen der entwicklungspolitischen Forschungsinstitutionen der ganzen DDR.
Eine der Aufgaben des in den sechziger Jahren gegründeten Instituts für die Ökonomik der Entwicklungsländer war die Ausbildung von StudentInnen aus den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Das merkt man auch heute noch, wenige Tage vor Beginn Sommersemesters 1993. Im Speisesaal und auf den Fluren der FHTW begegnen einem viel mehr schwarzhäutige und farbige Studierende als Weiße. Die FHTW setzt die Hochschulausbildung von rund 1.000 ehemalige HfÖ-Studenten fort. Das gibt eine spannende Mischung, wie ein Referent aus dem Rektorat berichtet: 50 Prozent West, 50 Ost – darin ein großer Anteil ausländischer Studierender.
Nach offizieller Doktrin gab es in der DDR nicht Entwicklungshilfe, sondern „sozialistische Wirtschaftshilfe“. Erich Honecker und seine Außenpolitiker wollten eine „vielseitige Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas“ entwickeln. Außerdem unterstützte die DDR den Kampf „um eine neue internationale Wirtschaftsordnung auf der Grundlage der Gleichberechtigung“.
Eine wissenschaftliche Analyse der praktischen DDR-Entwicklungspolititk nahm das Institut und die ganze Forschung in der DDR nicht vor. Dazu hätten die Daten gefehlt, beklagen die Wissenschaftler. Außerdem seien „praxisrelevante Themen dann quasi automatisch einer stärkeren Zensur unterworfen gewesen“, heißt es in einem Aufsatz eines Mitarbeiters von Stier, der die entwicklungstheoretische Diskussion in der jüngsten DDR zusammenfaßt.
Feldforschung, also möglichst praxisnahe Studien der konkreten Situation in den Entwicklungsländern, betrieben auch die Leipziger Afrikanisten und Nahost-Wissenschaftler kaum. Empirische Forschung war in der DDR allgemein schwierig. Die Leipziger brachten es immerhin auf Feldforschungen in Ländern „sozialistischer Orientierung“ wie Mosambik, Angola oder Madagaskar. Von ihrem theoretischen Ansatz her wären sie eher der „Dependencia-Theorie“ zuzurechnen. Sie faßten die Situation der Entwicklungsländer als die vom Weltmarkt „abhängiger“ Volkswirtschaften auf. Eine Abhängigkeit „auf der Grundlage nichtgleichwertiger Anteile an der kapitalistischen internationalen Arbeitsteilung“, die zu erheblichen Nachteilen für die Länder der Dritten Welt führte. Eine nationale Befreiung wäre nur möglich durch „die Herauslösung aus der kapitalistischen Weltwirtschaft“.
„Grundlagen der Nationalen Befreiungsbewegung“ hieß denn auch der Forschungsbereich an der inzwischen umbenannten Karl- Marx-Universität in Leipzig. Er war eines von drei regionalwissenschaftlichen Zentren in der DDR. Diese begriffen Regionen nicht nur kulturell und philologisch, sondern analysierten sie auch aus historischer, ökonomischer und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive. In Rostock wurden Lateinamerika-Studien getrieben, die Berliner Humboldtianer widmeten sich Süd- und Ostasien, und in Leipzig konzentrierte man sich auf Afrika und den Nahen Osten.
Bis auf den an der Humboldt- Universität sind die regionalwissenschaftlichen Fachbereiche mittlerweile „abgewickelt“. Der sächsische Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer sah das Lehrpersonal des Leipziger „Institutes für Entwicklungsstudien“ als „in besonderem Maße belastet“ an. Das kommt nicht von ungefähr: Schließlich galten die regionalwissenschaftlichen Zentren als Orte, wo nur ausgesucht zuverlässige Kader studieren durften, die noch während der Studienzeiten zu Praktika ins Ausland reisten und hinterher im diplomatischen Dienst unterkamen.
Da nutzte auch das Konzept eines der Gurus der westdeutschen Dritte-Welt-Forschung nichts, des Duisburgers Franz Nuscheler. Seine Schreiben seien gänzlich unbeantwortet geblieben, beklagen sich die betroffenen Wissenschaftler (Hopfmann, Krause und Schilling) aus dem ehemaligen Forschungsbereich „Grundlagen der Befreiungsbewegungen“.
An der Humboldt-Universität ist der regionale Zuschnitt des Fachbereiches „Asien- und Afrikawissenschaften“ weitgehend erhalten geblieben. Ob nun bei den fälligen Berufungen die sozial- und volkswirtschaftlich orientierten Kandidaten zum Zuge kommen, bleibt abzuwarten. Die Sektion Lateinamerikawissenschaften der Uni Rostock wurde ebenfalls abgewickelt. Dort soll jedoch ein „interfakultatives Zentrum für Lateinamerikastudien“ errichtet werden. Das bestätigte die Kultusministerin Mecklenburg-Vorpommerns, Steffie Schnoor, den abgewickelten Hochschullehrern. Doch dazu müßten sich die Fachbereiche der nördlichen Uni erst konsolidieren. Christian Füller
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen