■ Schnittplatz: Mit Angela Merkel in der ersten Reihe
Endlich melden sich bei den guten Deutschen wieder Anstand und Moral. Im Augenblick ist die Brillanz eines Politikers daran meßbar, was ihm zum Thema Gewalt und Sex im Fernsehen einfällt. Lang genug haben wir darauf warten müssen, doch jetzt ist es raus. Hans Schwier, seines Zeichens bisher farb- und geruchloser Kultusminister des SPD-regierten Landes NRW, hat eine gewaltige Duftmarke gesetzt.
Am vergangenen Freitag während der Verleihungszeremonie der Adolf-Grimme- Preise in Marl sah auch Hans Schwier mit der Zunahme wüster Fernsehprogramme das Ende des Abendlandes herannahen. Da sich im Augenblick Mode und Geist in die siebziger Jahre zurückentwickeln, erinnerte sich Schwier guter alter sozialdemokratischer Tradition und nahm noch einmal Altkanzler Helmut Schmidts Plädoyer für einen fernsehfreien Tag von 1978 auf. Nur zu gut weiß der selbsternannte Minister für Sauberkeit auf dem Bildschirm, daß er heute nicht mehr mit Hirnerweichung, Rückenmarkschwund und Debilität beim Fernsehkonsum kommen kann, wie es noch seine Kollegen aus der Hochzeit des Kulturpessimismus taten. Also keine generelle Abstinenz von der Glotze. Aber Schwier warnte vor der Verrohung durch Reality-TV und schlug deshalb einen „gewaltfreien Fernsehtag“ vor.
Herzlichen Glückwunsch! Jetzt sitzen linkskonservative Anhänger der Nachahmungstheorie mit der Bundesjugendbeschützerin Angela Merkel und ihrem sozialdemokratischen Pendant Hans Schwier in der ersten Reihe der Bildschirm-Puritaner. Vereint warnen sie uns vor der Droge Fernsehgewalt und drohen uns wie einst die Mutter dem onanierenden Knaben, ihm werden die Hände abfaulen, wenn er es weiter unter der Bettdecke triebe. Die Abstufungen, mit denen die Einpeitscher der Gewaltdebatte Sendern und Sehern pädagogisierend auf die Finger klopfen, reichen inzwischen von Christiane Grefes „Stiftung Medientest“ (Wochenpost) bis zur FSK- Kontrolle des Flimmerkistenprogramms. Hans Schwier hat sich nun aus Opportunismus und Kalkül mit eingereiht in die Phalanx der Prediger einer keuschen Medienrezeption und glaubt, daß keiner merkt, wie sehr er doch eigentlich zu denjenigen Wölfen im Schafspelz gehört, die mit ihrem Kommerzialisierungs-Fetischismus den ganzen Kanalsalat erst angerichtet haben. Oder, Herr Schwier? Ist es nicht Ihr Bundesland, in dem sich RTL-Kommerzkapitän Helmut Thoma mit sozialdemokratischer Rückendeckung gemütlich auf allen Frequenzen einrichten konnte? Ist es nicht Ihr Ministerpräsident, der hochnotpeinlich Vox, der neuen, wenn auch ungehörten Stimme des Volkes, via Bildschirm seinen persönlichen Segen erteilte?
Jetzt haben wir bald alle Argumente aus der Wirkungsforschungsgeschichte der siebziger Jahre wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt. Fehlt nur noch das gute alte Fernsehverbot. Auch dafür wird sich noch ein Politiker finden lassen, der uns Zuschauer zu potentiellen Mördern abstempeln will, die nur vor dem Apparat hängen, um blutige Anregungen für ihre bevorstehende Greueltat zu finden: jeder Seher ein zumindest voyeuristischer Straftäter.
Bei der diesjährigen Preisverleihung in Marl war die rechte Seite der Bühne mit einem blauen Polster verkleidet, das an die Inneneinrichtung geschlossener Anstalten erinnerte. Vielleicht werden ja im nächsten Jahr statt der Grimme- Preise die dazu passenden Zwangsjacken verliehen. Übergeben vom Kultusminister persönlich – für besonders vorbildliche Übung in Selbstzensur. Christof Boy
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