: Das Ziel färbt auf den Startpunkt nicht ab
■ Vom Zentralen Omnibus Bahnhof geht's auf in die Innenstadt, nach Barcelona oder Berlin. - Eine Stimmungskizze von Carsten Klook
geht's auf in die Innenstadt, nach Barcelona oder Berlin. — Eine Stimmungsskizze von Carsten Klook
I. DER MENSCHEN BENZIN
Anders als in den USA, in denen der Greyhound-Bus die Fahrt in eine windschnittige, silberne Verschalung gießt, ist den Bussen, die den ZOB bevölkern, etwas Behäbiges und SenioRentier-isches eigen. Der Bus als Verkehrsmittel dient vorrangig zur Fahrt in das Einkaufszentrum „Innenstadt“.
Und da nicht nur diese Stadt kein Zentrum hat, sondern auch der heutige Wille selten ein anderes Ziel kennt, als das Stillen der Sehnsüchte durch Produkte und Surrogate, heißt Kurz-Reisen heute nicht fortzukommen aus jenem flächendeckenden Einkaufszentrum, das dazu beiträgt, deutsche Städte zunehmend ähnlich aussehen zu lassen.
II. STOISCHE ZIERSTREIFEN
Der ZOB befindet sich auf einem, für das Wort vom „Zentralen Omnibus Bahnhof“, charmant-kleinen Gelände, das durch Plateaus für die Ansammlung von Fahrgästen Aufteilung und Struktur erhält. Die Bus-Parkbuchten, an denen Bänke und schmale Lampengestänge mit großen Leuchtkörpern stehen, die auch in Parks und Grünanlagen für die stereotype, infrastrukturelle, bundestypische Schlafzimmer-Möblierung sorgen, sind schräg zueinander, und verleihen dem Platz bei reger Betriebsamkeit stoische Zierstreifen.
Einzelne Menschen treten in der Ein- und Ausstiegsflüchtigkeit nur als flimmernde Farb- und Hitzepunkte im pointilistischen Gefüge auf. Bewegte Gemüter, Chiffon- Kleider, behütete Männer im Renten-Alter, deren Seelensud durch das Reisen leicht in Wallung geraten ist oder in banges Erwarten vorschwingt. Diese Energien wirken auf den Blickfänger und beben wie eine Gummi-Wärmflasche auf einer Bauchdecke während des Einatmens. Der ZOB hat Kränkelndes an sich.
Die Ankunft auf diesem Bahnhof ist so unspektakulär wie die Abfahrt. Man kann vom ZOB nach Barcelona und Berlin fahren, das sieht man dem Platz nicht an. Das Ziel färbt auf den Start nicht ab. Der Bahnhof gewährt ein passendes, stilistisches Ambiente nur bei Kurzreisen innerhalb des HVV-Verkehrsnetzes, bei Kaffeefahrten in die Heide (mit Heizdecken-Verkauf), ehedem zum Butter-Transfer in dänische Gewässer, zum Besuch des Vogelparks in Walsrode, Abstecher nach Lauenburg und an die Ostsee. Ein Bahnhof für herzhafte Kleinschrittmacher.
Man reist heute schnell. Reisen als Akt der bewußten Zeitverzögerung ist eine Form des Humors, für die im heutigen verkehrstechnischen Ablauf wenig Platz geblieben ist. Man fürchtet Reibungslosigkeitsverluste. Indianer warten nach Flügen bis zu vier Tagen an Flughäfen, bis auch ihre Seele nachgereist ist und wieder in ihrem Körper ruht.
Für das dubiose Durcheinander, das sich zum Beispiel der Hamburger Hauptbahnhof leistet, hat der ZOB nicht die mentale, das heißt linienbenetzte Kapazität. Seine Stärke liegt im Freien, Unbedachten. Der ZOB ist einer, der in den Fünfzigern seine besten Jahre verbracht und auch gesehen hat. Ein Kind einer Zeit, die in die Verlängerung gegangen ist, obwohl das Spiel schon längst aus ist. Ein Kämpfer ohne Zuschauer. Ein Kämpfer auf verlorenem Posten. Ein Platz auf Parkplatz.
III. DAS INNERE GEFLIMMER
All die Langeweile dieser parallel gelebten Leben, diese Spurentreue, die hier ein- und aussteigt. Zerlebte Ichs, diffus verniedlicht, sagt „Auf Wiedersehn!“ Hände gleiten in die Luft, man fügt einander zu, schanzt, verschränkt zwei mal fünf Glieder zum Abschied, Bekräftigung des Dezimalsystems. Ach ja, das kleine Reisefieber erreicht Normaltemperatur. Armung.
Kombi-Nation, kombiniere, Kombi-Naht. Seitdem der Busverkehr aus der DDR über diesen Platz preßt — denn das ist Fahren: die Strecke, das laufende Verlängern eines bedrückten Punktes —, hat der ZOB eine neue Knotenfunktion, hat er wieder etwas an Drüsencharakter zugenommen.
Auch das Von-hier-nach-dort hat seinen Ursprung im Geflimmer, der inneren Unruhe. Aus Punkten zusammensetzt sich die Hoffnung und die Lust und auch der Mensch. Niemals ist er ganz, niemals ist er fest in sich, verankert, schwingt er doch aus vielen Polen zusammen, gegeneinander, widerstemmt sich, und bildet nur durch den äußeren Draht der Silhouette gehalten das aus, was andere als seine Gestalt annehmen. Seelisch und körperlich: Man kennt ihn.
Doch ist es vielmehr, als setzten wir uns in jeder hundertstel Sekunde neu zusammen, so daß wir ebenso oft zerfallen. Und es passiert, daß wir manches Mal ganz verschwunden sind. Innen für uns, für andere und außen für uns sowieso.
Ich glaube nicht, daß die DNS nur an eine liebgewordene Gewohnheit zu appellieren hat, wie unser Mensch auszusehen hat. Sie bildet den Draht, in den unser Geflimmer fließt und es zusammenhält, ja. Stromstärke-Spannungen sind unsere Stimmungsbilder. Aber wie oft wollen wir uns zusammensetzen, als wären wir andere, für deren Silhouette wir keine Füllung haben. Nur weil wir uns an deren Umrandung nicht sattsehen können.
IV. UMSTIEG IN DIE VERGANGENHEIT
Andere Bewegungen, Beweggründe: Der ZOB lädt zur Erinnerung, zur Zeitreise ein. Ein Platz, der schwingt, gibt den Anlaß zur Vibration in die eigene Geschichte. Da ist die Erinnerung, wie ich als kleiner Junge mit meiner Mutter auf die Insel Rügen fuhr. Nach Saßnitz, um meine 86jährige Urgroßmutter zu besuchen. Wir gelangten in ein abgedunkeltes Haar eines Hauses (ob diese Assoziation vom Strohdach kommt?) mit niedriger Decke. Es war sehr heiß. Das heißt: Staubige Milchsommerhitze lag auf den ausgeblichenen Herdplatten der Straße (Milky Way). Ist das heiß genug, ist das heißend? Vor allen Fenstern waren Läden heruntergelassen und dort lag die Urgroßmutter, lag krank im Bett. Dort saß Urgroßvater Onkel Ernst im Lehnsessel.
Es stank. Sie hatte in das Waschbecken, hatte in das Waschbecken sich hineinübergeben, so auf die Kotze in den Ausguß, daß es verstopfte und nun stand das breiig- braune Wasser und stank. Ihre schrullige Haut beugte sich unter einer dicken Brille. Mutter räumte auf und machte sauber.
Urgroßvater Onkel Ernst guckte sehr abwesend. Vielleicht war er schon tot. „Ohgottogottogott“ sagte meine Mutter, „geh' bloß 'raus spielen“. Hier verfaulte man so langsam. Sie hielt es wohl für besser, wenn ich davon noch unberührt blieb.
Dann wollten wir wieder mit dem Bus zurückfahren, von Saßnitz nach Sellin. Meine schwangere Mutter erklomm die unterste Stufe, ein Lattenrost-Gitter, das am Bus angebracht war und in ihn hineinführen sollte. Sie blieb mit ihren Absätzen stecken, knickte um und fiel von der Treppe. Sie bangte um meine spätere Schwester und hatte Angst, daß dem Kind ein Schaden entstand. Frühes Trauma. Ein fremder Mann half ihr hoch und setzte sie in den Bus. Ein paar Monate später wurde ich Bruder.
V. AN ORT UND STELLE
Das runde Wahrzeichen des ZOBs, der Wasserturm: Als Kind hielt ich ihn immer für die eine Hälfte des Fünfzigmarkscheins, bis man mir erklärte, daß das Holstentor in Lübeck in sich bereits stimmiges Motiv genug sei. Schon lange wird der Turm von McDonalds besetzt und gefangen gehalten.
In der überdachten ZOB-Zone befinden sich runde Holzbänke um Pfeiler. Aschenbecher formte man kostengünstig aus ehemaligen Fahrplanhaltern. Normalzeit-Uhren erinnern an das Märchen und den Mythos vom Treffen eines Liebespaares mit Blumenstrauß und Konfektschachtel, wie das aus den Illustrierten der fünfziger und frühen sechziger Jahre heraus in mein Unterbewußtsein gebrannt wurde.
Die kleine Ladenpassage, die den ZOB an der Stirnseite zur Kurt- Schumacher-Allee einfaßt, ist des letzten Schreies letzter Hauch. Der Boutique komödiantenhaftes Kleidersortiment, ein, zwei Imbißstuben mit fettigen Tischen, ein Blumenstrauß-Geschäft, Süßwaren, Andenken, Kleckerkram, Tand und Trödel, der anschließend in Wohnstuben auf Staubfang geht. Und natürlich Reisebüros finden sich hier mühelos zusammen. Penner und Fremdarbeitslose gruppieren sich lose um ihre Tüten, um Schnaps und Bier.
Die um den ZOB gruppierten Schaukästen des weltbekannt e.V. schärfen den Blick nicht auf ihren Inhalt, sondern setzen sich in Verhältnis zur Ultra-Öde desolater Außenwelt. Diese Ödnis aber wird durch die Kunst, die sich zu ihr in Spannung verhalten möchte, die ihr falschverstandenerweise sogar versucht noch etwas entgegenzusetzen, zur Klasse-Öde, weil die Kunst noch öder ist als ihr Drumherum.
Hier wird Kunst wahrlich schmerzhaft und weist auf die Vergeblichkeit ihrer Rolle hin, exponierterweise auf irgend etwas anderes hinweisen zu können als auf die eigene Hilf- und Beziehungslosigkeit.
VI. NIGHT-ZOBBING, FEHLENDE MITTE
Nachts, wenn sich verrunzelt-vereinzelte Passanten an den, das Gelände umstehenden Büschen vorbeischleichen — vielleicht, um bei McDonalds in eine Snacktasche zu beißen, oder am allgemeinen, gar nicht zu den fünfziger Jahren passenden Heroinhandel teilzunehmen — liegt der Platz mitten in der Innenstadt da, wie eine leere Plastiktüte. Mehr noch, wie ein gähnendes Loch in einer Plastiktüte. Das fehlende Zentrum und das Verbrechen.
Die Leere dieses Platzes liefert das Rohmaterial für einen Krimi. Das romantisch Verschnarchte, das Weggefegte und Überflüssige, Liegengelassene und bemitleidenswert Sympathische, all das ist des ZOBs eigenstes Wesen.
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