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Helm-Aktion

Ostberlin: Stolpersteine auf dem Dritten Weg  ■ Von Klaus Schlesinger

Am Anfang war das Bild. Schwarzweiß aus Prag der bedachte, jedes Wort wägende Eduard Goldstücker mit seiner Vision vom tschechoslowakischen Sozialismus. Aus Baden-Baden der sengende Blick eines jungen Mannes namens Rudi Dutschke, der zu einem Interviewer namens Günter Gaus von der Notwendigkeit radikaler Veränderungen in der BRD sprach. Beide, Goldstücker wie Dutschke, gebrauchten uns bekannte, marxistische Begriffe, aber beide taten es auf eine so andere Art, daß die Worte, ihrer Phraseologie entkleidet, wie neu vor uns standen; wieder benutzbar.

Es war eine Stimmung des Aufbruchs nach den bleiernen Jahren, die dem kuturellen Kahlschlag nach Ulbrichts 11. Plenum gefolgt waren. Überall Diskussionen, in den Freundeskreisen, den lockeren Zirkeln, den Jugendklubs. Wo man hinsah: Bewegung. Hüben und drüben die zarte Hoffnung, daß aus der deutschen Alternative, die nur die Wahl zwischen Pest und Cholera ließ, eine andere, lebbare wachsen könnte.

Auch die Bilder vom Attentat sah ich zuerst im Fernsehen: den Bordstein einer Berliner Straße, das verbogene Fahrrad, den einzelnen Schuh. Spät abends die gepreßten Stimmen aus dem Polizeifunk: „Störer im Bereich Kochstraße! Steinwürfe!“ – Im Hintergrund Sprechchöre, Pfiffe, Johlen, Tumult. Ich saß mit angehaltenem Atem vor dem Zwölfkreis-Super aus Staßfurt. Die Straße kocht, und ich sitze hinter der Mauer!

Dann kam Ostern. Der Spaziergang mit Stephan am Sonntag, die Linden, die Friedrichstraße hinunter, quer durch Nebenstraßen in die Nähe des Springerhauses; wie angesogen. Der Blick über die kalkweiße Mauer auf den Kasten mit der schrägen, nach Osten gerichteten Leuchtschrift. Gefühle der Wut, der Ohnmacht. Der Satz: Wenn man was machen könnte! – Stephans Gedanke an einen Mann von drüben, der öfter seine Stiefmutter, eine bekannte Schauspielerin, besuche und irgendwas mit der Apo zu tun habe; den wolle er mal fragen. – Eine Woche später kam die Antwort. Wenn wir etwas tun wollten, könnten wir Helme gegen die Gummiknüppel und Regenmäntel gegen die Wasserwerfer schicken.

Wir saßen am Wochenende meist in einem Friedrichshainer Jugendklub, in dem die ersten Free-Jazz-Sessions Ostberlins stattfanden und eine Menge unangepaßter Leute Ende zwanzig, Anfang dreißig verkehrten. Unsere Idee stieß auf ebensoviel Resonanz, wie sie Bedenken hervorrief. Könnten wir das tun, eine Gruppe von Leuten, unabhängig, wie wir sagten, einfach so?

Wir gingen zu Stephans Vater, dem Chefkommentator des DDR- Fernsehens, der uns eher abriet, sich aber bei Gelegenheit in den oberen Etagen der Partei erkundigen wollte. Wir gingen zu Stephans Stiefmutter, die uns zu ihrem Nachbarn mitnahm, dem Bildhauer, dem Spanienkämpfer. Mitten in unseren zweifelnden Reden herrschte er uns an: Wenn wir glaubten, wir täten das Richtige, sollten wir es tun, anstatt endlos zu diskutieren oder auf einen Segen von oben zu warten. Am nächsten Tag begannen wir, Geld zu sammeln, bei Leuten, die wir „unser Establishment“ nannten, bei Schauspielern, Künstlern, Wissenschaftlern. Ich hatte früher als Laborant in der Charité gearbeitet, ging zu den Doktoren und Professoren der Medizinischen Fakultät, stand auch dem Dekan gegenüber, einem Genossen mit Einzelvertrag und Dienstwagen, der zögernd und mit entschuldigender Geste zwanzig Mark aus seiner Brieftasche zog: Er baue zur Zeit, und ich wisse sicherlich, was es heiße zu bauen. – Ich wußte es nicht.

In ein paar Tagen hatten wir die für östliche Verhältnisse beachtliche Summe von 8.000 Mark beieinander, liefen in kleinen Gruppen von Laden zu Laden und entzogen dem Bevölkerungsbedarf alle verfügbaren Motorradhelme und Regenmäntel aus PVC. Wegen der teuren Helme schmolz das Geld schnell dahin. Einer hatte die Idee, wir sollten es mit den billigeren Bauarbeiterhelmen versuchen, aber die gab es im Einzelhandel nicht, und Barzahlung stieß im sozialistischen Großhandel auf Schwierigkeiten. Wir gründeten kurzerhand eine Scheinfirma, verteilten die Berge von Helmen, die Stapel von Regenmänteln auf zwei Wohnungen und gaben die Nachricht, es könne losgehen. Am Wochenende vor dem 1. Mai begann die Aktion. Gruppen von drei, vier Leuten kamen herüber und nahmen drei, vier Helme oder Regenmäntel pro Person hinüber, gerüstet mit einem formlosen Stück Papier für die Grenze, auf dem vermerkt war, daß „die mitgeführten Gegenstände ein Solidaritätsgeschenk für die Westberliner Apo zum 1. Mai 1968“ seien – Unterschrift Fritz Cremer, Nationalpreisträger; Inge Keller, Nationalpreisträgerin – und unserem trotzigen Satz: Wollen wir mal sehen, ob sie euch damit Schwierigkeiten machen! –

Junge Männer mit schulterlangem Haar und wirren Bärten, junge Frauen in extrem kurzen Röcken – wir tranken Tee, wechselten Blicke und redeten uns die Köpfe heiß. Der dicke Beppo, rotbärtig, rothaarig, von dem erzählt wurde, er habe bei einer Institutsbesetzung den massiven, von keinem zu bewegenden Schreibtisch des Direktors kurzerhand auf den Rücken genommen und zum Fenster hinausgekippt; Michel, klein, drahtig, unrasiert und mit leidenschaftlichem Blick, der gestand, er trüge bei Demonstrationen eine Fahrradkette bei sich und würde mit ihr, falls er sich wehren müsse, auch zuschlagen, so sehr hasse er sie, diese Spießer, Faschisten!

Vietnam, Paris, Prag. Unsere Erklärungsversuche folgten marxistischen Mustern und scheuten den doppelten Genitiv nicht: Die Studentenbewegung als Ausdruck der Proletarisierung der Intelligenz! – Sieh mal, höre ich mich sagen, als ich anfing zu arbeiten, gab es in meinem Betrieb unter 500 Beschäftigten zwei Akademiker. Heute sind es zwei Dutzend, mindestens! Und warum? Die technisch-wissenschaftliche Revolution, klar! Die Produktivkräfte explodieren, verändern die Welt bis zur Unkenntlichkeit! – Und Prag? Die Welt ist eine Einheit. Das Volk will wirkliche Demokratie. Die Betriebe gehören dem Volk. Stimmt. Aber wem gehört das Volk!

Fiebrige Debatten, zwei Tage lang, abends Erschöpfung und die Rekapitulation der witzigen Seite unserer Aktion. Für die Verteilung am Samstag hatten wir die Ladenwohnung eines Freundes in der Sophienstraße gewählt. Wir wollten so unauffällig wie möglich bleiben; die Kuriere, die den Laden durch die zur Straße gelegene Tür betreten hatten, baten wir, ihn durch den Eingang zum Hausflur wieder zu verlassen. Die müssen nicht alles mitkriegen, verstehst du? – Nicht nötig, meinte eine junge Frau. Sie sei, die Hausnummer suchend, mit ihrem Käfer langsam die schmale Straße hinabgefahren, worauf eine aus dem Fenster lehnende Bewohnerin gerufen habe, ob sie etwa Helme suche, und, als die junge Frau bejahte: „Die kriegen Sie im Milchladen.“

Damals, im April 68, der klare Gedanke, im Deutschland der Marktwirtschaft vielleicht doch leben zu können – wenn es dort solche Leute gab? Der Gedanke, wir könnten uns ebenso kraß mißverstanden haben, wie wir uns sympathisch fanden, kam uns nicht. Oder doch? Einmal, ein wilder Haufen in einem heruntergekommenen VW-Bus, wieder Tee aus der riesigen Kanne, Diskussionen über die Lage hier und die Lage drüben, plötzlich waren wir bei den sogenannten zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Bedingungen der entfremdeten Warenproduktion, jemand mit halblangem Haar und weichem Gesicht begann, etwas über die Schwierigkeiten mit der Ehrlichkeit zu reden, ich sah ihm an, es war sein Problem, lief zum Bücherregal: Frisch sagt dazu..., und er holte weit aus und redete, ich stand, mit Frischs erstem Tagebuch in der Hand, kam nicht dazu, die Stelle, die ich so wichtig fand, zu zitieren, aller Augen waren auf ihn gerichtet, und bald darauf trennten wir uns. Erst später sah ich das Gesicht noch einmal, im Fernsehen, und wieder später fand ich einen der Zettel, auf denen wir uns, pro forma und für den Fall, daß unsere Geldgeber auf Rechenschaft wert legten, die Spende hatten quittieren lassen, und ich las in der Spalte, in der auch eine A. Proll unterschrieben hatte: 4 Helme, 4 Mäntel – H. Meins.

Am 1. Mai 1968 reihte sich unsere kleine Gruppe, ganz freiwillig und eine Vietcongfahne schwenkend, irgendwo zwischen zwei Betriebsgruppen ein und lief mit dem Gefühl vollkommener Befriedigung über den Marx-Engels-Platz. Wir hatten etwas getan, was uns nötig schien. Einfach getan, basta! Ohne den Segen von oben – und auch ohne den Gedanken daran, daß im Ost-West-Verkehr ohne diesen Segen nichts, aber auch gar nichts lief. Und daß er offenbar gegeben worden war. Als an jenem Sonntag, spät nachmittags, eine Westberliner Gruppe ihr Kommen ankündigte, sagte ich übers Telefon, wir hätten nichts mehr, keine Helme, keine Mäntel, alles weg! – Abends, als eine andere Gruppe, die schon mittags bei uns gewesen, aber nicht sofort wieder zurückgegangen war, über die Grenze wechseln wollte, zog der Zöllner die Stirn kraus und fragte, woher sie das hätten? Er wisse genau, die Sachen seien schon am Nachmittag weg gewesen.

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