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Der baschkirische Traum von Kuwait

In der russischen autonomen Republik Baschkortostan wird die Bevölkerung am kommenden Sonntag auch über größere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Moskau abstimmen  ■ Aus Ufa Klaus-Helge Donath

„Politik und Wirtschaft in unserer Republik kontrolliere ich.“ Rafis Kadyrow sagt es ohne jede Überheblichkeit. Im Gegenteil, er wirkt bescheiden, fast artig, wie ein gut erzogener Primaner. Kadyrow ist 35 Jahre alt und wohl tatsächlich der reichste Mann der Republik Baschkortostan im südlichen Ural. Der ehemalige Arzt ist sich seiner Sache sicher. Der nächste Präsident der autonomen Republik wird er sein. Noch stehen keine Wahlen an, die alten Kräfte fürchten sie. Doch was macht das schon, wenn man die Fäden der Republik ohnehin in den Händen hält. Kadyrow kann warten.

Vor dem Stabsquartier der „Bank Wostok“ (Osten), dort wo Rafis Kadyrow in Ufa zur Zeit residiert, wendet sich eine alte Bäuerin schon zum Gehen. Dann aber überwindet sie sich doch: „Privatisierungsschecks... Nehmen Sie die hier noch?“ Der Wachmann zeigt auf den Anschlag an der Tür: „Scheckannahme nur noch in folgenden Filialen...“. Ein Viertel der rund vier Millionen Einwohner des früheren Baschkiriens haben Kadyrow ihre Schecks gebracht. Täglich werden es mehr: „Ein Beweis für großes Vertrauen, nicht wahr?“ Der Bankier kauft die Anteilsscheine nicht auf. Er nimmt sie nur in Verwahrung. Später will er damit ganze Fabriken erwerben. Ein smarter Junge, im maßgeschneiderten Anzug. Zweieinhalbtausend Angestellte arbeiten unter seiner Ägide. „Nur die besten Experten“, meint er, diesmal unbescheiden. Kadyrow verkörpert den Fortschritt in Baschkortostan. Und er weiß, worauf es ankommt: „Die Mentalitäten der Menschen müssen wir ändern, unsere Gesellschaft ist krank, sehr krank.“

Im Parterre von „Wostok“ hat die „Kinderbank“ ihren Sitz. Hier stehen reihenweise Computerterminals. Jeden Nachmittag kommen Jugendliche, um an ihnen zu lernen. Kadyrow dient dem Fortschritt und schafft früh Loyalitäten. Er ist ein Entwicklungspatriarch, wie ihn wohl besonders östliche Gesellschaften lieben.

Über den Ufern des Flusses Ufa erhebt sich der weiße Quaderbau des Obersten Sowjet der Republik. Hinter weit vorstehenden kantigen Mauerkolonnen verstecken sich Fenster. Leben ist dem Bau nicht anzusehen. Überall im Land hatte sich die siechende Macht der Sowjets ähnlich abweisende Mausoleen errichtet. Kälte konserviert. Baschkortostans alte politische Elite kämpft mit der neuen Zeit. Um überhaupt am Vertrauensreferendum Jelzins teilzunehmen, beschloß der Oberste Sowjet, dem Plebiszit noch eine fünfte Frage hinzuzufügen: „Glauben Sie, die Republik Baschkortostan sollte im Interesse ihrer Völker wirtschaftliche Selbständigkeit erhalten?“ Baschkortostan hat den Föderationsvertrag mit Rußland längst unterschrieben. Wie sein Nachbar Tatarstan erstritt sich die Republik soeben noch eine „Anlage“ zum Vertrag. Baschkortostan erhält die Zusicherung, eine eigene Außenpolitik betreiben zu können. So steht es zumindest auf dem Papier.

Im Obersten Sowjet fand sich keiner, der zu den Vertragsgrundlagen hätte Auskunft geben wollen. Alle „Experten“ hielten sich zufällig in Moskau auf. Nur Herr Kassenko, der Leiter der Referendumskommission, willigte zögernd ein: „Aber nur technische Fragen...“ Unverkennbar ein Mann des alten Schlages. Zahlenkolonnen rasseln vorbei, 2,7 Millionen Wahlberechtigte, drei Millionen Stimmzettel, 3.000 Wahlkreise, 600 Millionen Rubel. „150.000 Tonnen Papier“, sagt er, dann hält er inne... Natürlich! Er wartet auf die Nachfrage: „Wie konnten Sie denn so schnell das alles organisieren?“ – „Tja, auf verschiedenen Wegen. Wir haben da noch unsere ... überkommenen ... Kontakte.“

Seine anfängliche Verschwiegenheit schwindet allmählich. „Eigentlich müßten wir uns um die Wirtschaft kümmern, statt mit dem Referendum Zeit zu verlieren.“ Überhaupt, was sei das für eine Frage: Unterstützen Sie die Politik des Präsidenten? „Der hat doch gar kein Programm“, abrupt unterbricht sich Kassenko. Er war vom Pfad abgekommen, hatte sich in eine Meinung verirrt. „Alles weitere fragen Sie doch am zuständigen Ort...“

Etwas zuständiger fühlte sich Masgar Isjanbajew, er kümmert sich um das sozialökonomische Wachstum der Republik. Seine Visitenkarte weist ihn als einen vielbeschäftigten Mann aus. Baschkortostan könnte eine reiche Republik sein. Erdöl, Gas, alle möglichen Buntmetalle und Holz finden sich hier. Die Sowjetmacht baute eine Reihe weiterverarbeitender Industrien. Letztlich zum Nachteil des Landes. Die Region zählt zu den ökologisch am stärksten verseuchten Gebieten Rußlands.

„Trinken Sie kein Wasser“, warnte der Fahrer gleich zu Anfang. „Dioxin, überall.“ Vor zwei Jahren gingen 45.000 Menschen in Ufa auf die Straße. Eine ungeheure Masse Leute für eine russische Provinzstadt. Unabhängige Wissenschaftler hatten Dioxin im Trinkwasser entdeckt. Die alte Macht leugnete es rundheraus, wie es ihre Art war.

Auch heute werden die Aktivitäten der Umweltschützer behindert. An diesem Wochenende konstituierte sich die Grüne Partei. Im letzten Moment weigerten sich die Behörden, den Veranstaltungssaal zu vermieten. Man mußte in den Hörsaal der Chemiefakultät ausweichen. Anzeigen in Zeitungen, obwohl bezahlt, erschienen nicht oder wurden unauffällig plaziert.

Isjanbajew vergleicht seine Heimat mit Kuwait. Kaum ein „unabhängiges Subjekt der ehemaligen UdSSR“, das sich nicht in diesen traumhaften Vergleich flüchtete. Baschkortostan könnte sogar reicher sein, meint er. Aber die Auflagen und die Abhängigkeit von Moskau seien ein Hindernis nach wie vor. Wollen sie denn mit dem Referendum tatsächlich aus der Föderation aussteigen? Der Sozialökonom windet sich. Sechzig Prozent aller Einnahmen flossen früher nach Moskau, nur ein Bruchteil kam zurück. Das muß sich ändern.

Ganz allein kann Baschkortostan nicht existieren, dieser Ansicht stimmt auch Isjanbajew schließlich zu. Reicht der Föderationsvertrag dann nicht als Garantie gegen Moskaus unstillbaren Hunger? Der Bürokrat ist unsicher. Was sollte er auch Konkretes antworten? Denn die Referendumsfrage nach größerer Selbständigkeit dient einem ganz anderen Zweck. Die alte Nomenklatura vor Ort sperrt sich gegen Reformen aus Moskau. Ihre Verbündeten sitzen dort im Volksdeputiertenkongreß und Obersten Sowjet.

Den Drang zu größtmöglicher Autonomie verkaufen sie der Bevölkerung sozusagen als unbestreitbares Grundrecht. Sie selbst jedoch suchen nach einer Legitimation, um sich vom Reformkurs abzukoppeln. Weg von Moskau heißt Absage an die Reformen und Unterstützung der konservativen russischen Legislative. Im Schacher mit Jelzins Regierung können sie dann vorübergehend einige Zugeständnisse abpressen. „Eine Drohung“ sei es, räumte Isjanbajew am Ende freimütig ein. Schon heute würde das Parlament nur das aus der Zentrale übernehmen, was den Interessen der Republik diene. Selbst Isjanbajew huscht bei diesem Bekenntnis ein Lächeln über die Lippen. Hätte in Moskau ein anderer das Sagen, wäre Autonomie für sie kein Thema.

Unter den Baschkiren, die als Titularnation in ihrer eigenen Republik nach Russen und Tataren erst an dritter Stelle rangieren, könnte dieses Vorgehen jedoch ganz anders aufgenommen werden. Altaf Gaifolin von der Volkspartei Baschkortostan kämpft nur noch für die Unabhängigkeit. Ob Sowjetunion oder Rußland: „Alles einerlei. Man hält uns in kolonialer Abhängigkeit.“ Vor seiner Zeit als Funktionär der Volkspartei, die 30.000 Mitglieder zählen soll, arbeitete Gaifolin als Eisenbahner. Er ist erregt, will seine Message unbedingt loswerden: Die Baschkiren sind von Assimilation bedroht. Russen und Tataren seien die eigentlichen Herren.

Das Mißtrauen gegenüber den Tataren ist riesig, die Angst vor den Expansionsbestrebungen eines Großtatarstan gewaltig. In den Erzählungen erscheinen die nordwestlichen Nachbarn bedrohlicher als die Russen. Die Tataren gelten als kultivierter. Die Baschkiren waren bis ins letzte Jahrhundert ein Volk nomadisierender Viehzüchter und Jäger.

Ufa ist weder eine baschkirische noch russische oder tatarische Stadt. Als Anderthalb-Millionen- Siedlung leidet sie an der sowjetischen Monotonie. Noch immer grüßen Slogans von den Dachsimsen die erfolgreiche Partei und den Großen Oktober. Sie bleiben die einzigen Farbtupfer. Ein paar windschiefe uralte Holzhäuser im Zentrum lassen die beschauliche Tristesse einer ehemaligen russischen Gouvernementsstadt zumindest erahnen.

Einziger Blickfang auf dem Hügel des Obersten Sowjet ist die Moschee. Als hätte sich die weltliche Macht bewußt da oben postiert. Mufti Talgat Tadjuddin, Obermufti für den europäischen und sibirischen Teil der GUS, möchte über Politik nicht reden, mit der örtlichen Macht käme man zurecht. Ansonsten stünde ihm Politik bis zum Hals. Er ist Tatare. Baschkirische Glaubensbrüder, auch sie sunnitische Moslems, wollen ihn loswerden. Er selbst hatte davon kein Wort erwähnt. Extremismus sei in Ufa die Sache einer Minderheit, so seine Generallinie.

Mag sein, doch es gibt ihn. In der baschkirischen Volkspartei und ihrem tatarischen Pendant. Glaubt man den Prognosen des tatarischen Jugendverbandes Asatlyk – Freiheit –, scheint eine Auseinandersetzung unausweichlich. „Vielleicht sogar blutig“, meint ihr Vorsitzender.

Der Konflikt, der sich bisher nur um das Tatarische als dritte Staatssprache drehte, bricht auf, sagt er, wenn es an die Landverteilung geht. Angeblich sollen Tataren keinen Anspruch haben. Für sie ist klar, im Referendum werden sie für Jelzin stimmen, schon aus nationalen Erwägungen.

Jelzins Vertrauter in Baschkortostan ist Mars Safarow. Der Dekan der Chemiefakultät und Vorsitzender der Grünen-Partei hält die nationalen Zwistigkeiten für maßlos übertrieben: „Konflikt um die Staatssprache, ja. Wo es sonst noch Unstimmigkeiten gäbe, wüßte ich nicht.“

Vor zwei Jahren, als der Oberste Sowjet Präsidentschaftswahlen abhalten wollte, war neben Bankier Kadyrow Safarow einer der aussichtsreicheren Kandidaten. Das Parlament blies die Wahlen ab, als sich abzeichnete, Rachimow, der alte und neue Vorsitzende des Republikssowjet, würde eine Schlappe erleiden. Bis heute gibt es keinen Präsidenten. Rachimow in der Eigenschaft des Parlamentsvorsitzenden führt bis dato die Regierungsgeschäfte. Und so möchte es Ruslan Chasbulatow in Moskau auch haben.

Dennoch ist Safarow optimistisch: Das Volk wolle nicht in die alten Zeiten zurück. Die Städte werden für Jelzin stimmen. Ob es die Mehrheit der Wahlberechtigten – wie vom Moskauer Volksdeputiertenkongreß gefordert – werden wird oder die Hälfte derjenigen, die zur Wahl gehen, das spiele keine Rolle. Wichtig sei allein die Pro-Jelzin-Entscheidung.

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