: Im Legastheniker-Durchgangslager
■ Neues vom Polemiker Gerhard Henschel
„Die Häresie des 20. Jahrhunderts war, zu glauben, daß man das Böse beseitigen könne“, schreibt der französische Philosoph Bernard-Henri Levy. Der Mensch ist keineswegs „edel, hilfreich und gut“ (Goethe), sondern „jeder ist ein Sack für sich“ (Wilhelm Busch), und der Glaube an die Menschheit zerschellt meist schnell an den Menschen selbst.
Wer dies erkannt hat, nimmt bald zwischen den Stühlen Platz. Gerhard Henschel zum Beispiel, dessen ausgewählte Satiren, Polemiken, Essays und Feuilletons jetzt als ironische „Moselfahrten der Seele“ vorliegen. Für aufmüpfige Leute, die gern selber denken, eine erfrischende Lektüre.
Die naiven Menschenerzieher mit ihren Leitbildern aus Reklame, Religion oder Reformkost hat Henschel auf dem Kieker. „Längst ausgestorbene Schmetterlingssorten“, so entwirft er ein zur Wahrheit entstelltes Bild der heileheilen Zukunftswelt, „geläuterte Übelkrähen, zum Vegetarismus bekehrte Aasgeier und aerodynamisch perfektionierte Damenbinden schweben einträchtig über den Wipfeln dahin, und das höchste Ansehen genießen die Blockflötenlehrer. Auf den Pausentoiletten der Waldorfschulen, wo früher noch heimlich geraucht, masturbiert und erbittert gerungen wurde, treffen sich neuerdings die Klassenbesten zur Gebetsmeditation. Das schlechte Wetter ist beseitigt worden. Aseptische Teenager umlagern die Tauschbörse für Aufkleber mit Bibelversen, und wer einen Mitesser hat, wird sofort interniert und in Weizengrassaft und Ziegenmilchpulver getunkt.“
Friede, Freude, Eierkuchen ist die heute gewünschte Einstellung. Henschel aber verwünscht sie, und ganz besonders die Psychoszene und das Betroffenheitsgeraune. Er wehrt sich gegen den moralischen Überdruck und das Muckertum derer, die stets das Gute wollen und oft nur das Schlechte schaffen, und wenn er sich in seiner fiktiven Reportage „Spätsommer im Legastheniker-Durchgangslager Alzheim“ über Selbsthilfegruppen lustig macht, so ist das kein Zynismus: hier hat jemand das Umkippen der Humanität in Borniertheit und Vereinsmeierei bemerkt.
Es sind unzeitgemäße Betrachtungen, aber das Menschliche-Allzumenschliche ist ihnen vertraut: Oft steckt ja hinter einer rauhen Schale nur ein weicher Keks. Der 1962 geborene Gerhard Henschel ist ein Glücksfall. Er liebt das einfache Glück (man lese „Wie zu baden sei“) und weiß um das einfache Unglück („Das Brechen“). Man lasse sich von der oft harten Gangart nicht täuschen: Hier ist ein heimlicher Menschenfreund am Werk. Peter Köhler
Gerhard Henschel: „Moselfahrten der Seele. Referate und Räuberpistolen“. Mit einem Vorwort von Eugen Egner und einer Gastgeschichte von Wiglaf Droste. Verlag Weißer Stein, 182 Seiten, 22 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen