Nebensachen aus Moskau: Von einem historischen Ereignis zum nächsten
■ Rußland am Tag des Referendums: Alles bleibt beim alten, und nichts ist mehr das gleiche
Moskau (taz) – Wieder ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung in Moskau. Das Referendum. Eben noch schob der Volksdeputiertenkongreß die Welt an den Abgrund. Schon entscheidet das Volk über Auferstehung oder Jüngstes Gericht. Nach alter Manier tischt die Macht an solchen Tagen auf. Weißer, roter Fisch und „Buterbrode“ – russisch für Sandwich – türmen sich in den Wahllokalen. Und einen Tropfen gibt es auch. Hoffentlich erst nach dem Wahlgang. Die Polizei geht ihrer Hauptbeschäftigung nach, dem legalisierten Straßenraub. Die Verkäuferin im Laden giftet ihre Kunden an wie eh und je. Der Müll fliegt durch die Gegend, die Ratten sollen es nicht so weit haben. Der Fahrstuhl hängt, und die Birne im Treppenhaus... Zum hundertsten Mal hat sie jemand durch eine kaputte ersetzt. Morgens wieder kein Wasser aus der Leitung. Unerträgliche Ausdünstungen schwängern den U-Bahn-Waggon. Dem Fahrer fehlt das Taschentuch. Im Zeittakt zieht er den Schnodder hoch. Der Besuch schlürft die Suppe, als wäre der Löffel aus Blei. Mit Vernunft und Argumenten kommt man kein Stück weiter. Statt dessen: absahnen, absahnen und nochmals absahnen. Es ist zum Schreien. Mein Gott, wie halt' ich das hier nur aus?
Durch Moskaus Petrowka- Passage flanieren junge Leute. Sie sind adrett gekleidet. Die Sachen sitzen. Zielgerichtet steuern ganze Familien auf ein Geschäft zu. Sie bestaunen nichts, wie früher, sie wählen aus und kaufen. Sie sind keine Einzelerscheinungen mehr, mittlerweile stellen sie eine Schicht. Die zukünftige staatstragende Mittelschicht. Zugegeben, Politik interessiert sie nicht. Aber sie haben ein Interesse. Die Überreste der Bananen aus Israel liegen im Mülleimer. Nur das, was nicht mehr reinpaßt, liegt daneben. Hunderte umringen die provisorischen Kioske, die die neuesten Kommunikationstechniken anbieten. Dazwischen haben Restaurants eröffnet, die den Gast tatsächlich willkommen heißen. Mehr schlecht als recht machen Jugendliche Straßenmusik, dröhnend laut, ohne von der Miliz aufgegriffen zu werden. An den Kreuzungen stürzen sich Kinder auf die Autos, um Windschutzscheiben zu putzen.
Eine Jugend wächst heran, die mit ihren verstockten, verängstigten und von Vorurteilen zehrenden Großeltern und Eltern nichts mehr gemein hat. Vor dem Bonbongeschäft auf Moskaus Twerskaja-Boulevard bilden sich heißhungrige Schlangen. Überall in der Stadt werden Läden geschlossen, um sich einer Generalüberholung zu unterziehen.
Und die Frauen haben ihre frühere Kriegsbemalung abgelegt. Die Welt um sie herum ist einfach bunter geworden. Allerorten wird gehandelt und gekauft. Das verändert die Mentalität. Zwingt die Menschen, aufeinander zuzugehen. Die demütigende Symbiose aus Versorgern und Versorgten schwindet allmählich zu einer Randerscheinung. In einem Land, in dem alle versorgt sein wollten, nur keiner die Sorge tragen wollte.
Die alten Schmarotzer des Systems versuchen mit dem legendären Sozialneid der Russen noch einmal ihr Süppchen zu kochen. Wie der Redakteur der Prawda, der dem Fernsehpublikum allen Ernstes weismachen wollte, Mercedesse auf Moskaus Straßen seien Zeichen der Unmoral. Er leidet natürlich. Früher kämpften sie um das Privileg eines Wagens der Sonderklasse, heute kämpfen sie gegen sinkende Auflagen.
Es ist noch ein ziemlicher Weg, bis in Rußland unter Gerechtigkeit jeder etwas mehr versteht als nur die Gleichverteilung oktroyierten Verzichts. Doch mittlerweile vermengen sich die gegensätzlichen Welten in jedem einzelnen Individuum. Viele haben das noch nicht erkannt, benennen können sie es noch nicht. Sie reagieren darauf mit Verunsicherung. Die Intuition sagt ihnen aber, wohin sie ihren Blick richten sollen. Bei der jungen Generation ist es schon gar keine Frage mehr. Deshalb können sich Kongresse jagen und Referenden wiederholen. Ereignis auf Ereignis folgen.
Der Welt mag der Atem stocken, wenn tausend Abgeordnete den Aufstand proben. In Rußland gibt es kein Ereignis von finaler Bedeutung mehr. Einzig bemerkenswert ist, was sich unbemerkt vollzogen hat, in rasanter Geschwindigkeit seit dem August 91 und eigentlich schon zuvor. Die Transformation der Gesellschaft. Klaus-Helge Donath
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