: Nachschlag
■ Ein Abgesang des Abendlandes in der Möwe
Verlorengegangen sind uns die Lieder. Liebes- und Kinderlieder, Hochzeits- und Trauergesänge. Für jede Stimmung, jeden Anlaß gab es einst Melodien, aber viele der alten Weisen, die Großeltern ihren Enkeln sangen und so an sie weitergaben, gerieten mittlerweile in Vergessenheit. „Wenn ich ein Gefühl ausdrücken möchte, muß ich singen“, sagt Anne Martin, Chansonnette aus der Schweiz. Daß Volkslieder nichts mit Folklore zu tun haben müssen, zeigte sie am Mittwoch im Künstlerklub „Die Möwe“. Alte französische und italienische Straßen-, Liebes- und Klagelieder hat sie auf ihren Reisen gesammelt, in Paris ausgegraben, von korsischen Freunden zugetragen bekommen, auf Sizilien aufgespürt. Im zusammenwachsenden Europa sei es wichtig, die regionalen Klänge zu bewahren, meint sie, vor allem den Tonfall und Rhythmus des örtlichen Lebens.
„Fenesta che Lucive – Suche nach den Wurzeln“ überschreibt Anne Martin ihren Liederabend. Die ehemalige Tänzerin bei Pina Bausch singt keine Chansons im herkömmlichen Sinne, kein Anklang an bei uns bekannte Sänger wie Jacques Brel, Georges Brassens, die Piaf. Der scharfe, anklagende Ton in der Stimme, immer an der Grenze zwischen Trauer und Theatralik, zieht sich durch den Abend. Wie eine Straßenmusikantin („Ich spiele am liebsten auf der Kirmes“) begleitet sie sich mit dem Akkordeon, singt von käuflicher Liebe und verlassenen Frauen, von gefangenen Männern und einer toten Tochter. Die eindringlichsten Lieder kommen dann aber a cappella. Archaisch einfache, getragene Tonfolgen reihen sich zu klagenden Melodien. Nur an wenigen Stellen darf sich die Stimme frech erheben, ein hüpfender Rhythmus die Töne aufheitern. „Mamma, Mamma, ich sterbe! Petersilie kann mich nicht heilen, der Gärtner ist's, an dem ich sterbe!“ Vielarmige Kerzen spiegeln sich im glänzend gelackten Flügel, um eine würdige Kulisse für den tragischen Untergang des Abendlandes zu geben. Zu den düsteren Klängen und Worten ohne Hoffnung („Es gibt keine, so alleine und traurig ohne irgendwelches Glück wie mich“) verbreiten die niedergeschlagenen Augen der Chansonette ein wenig viel Pathos. Der puppige, ordentliche Raum der „Möwe“ steht ihr nicht. Ihr trauriger Gesang, auf der Suche nach den verlorenen Wurzeln, zwischen Bewahren und Vergehen, fände in den Spiegeln und Schnörkeln, den Lüstern und Leuchtern des alten Esplanade wohl einen besseren Widerhall. Uta von Armin
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