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SanssouciNachschlag

■ Im Labyrinth der Katzbachstraße

Man geht rein, findet nicht mehr raus und wird irgendwann mal auf die Hörner genommen. Seit Minos' Tagen versetzt das Labyrinth kaum jemanden mehr in Aufregung. Es sei denn, man verirrt sich dieser Tage in die Katzbachstraße. Das für 120 Tage installierte Labyrinth im Haus Nummer 19, von Nadia Schmidt und Jean Marie Boivin erbaut, überrascht den Irrläufer mit einer weiteren Variante: Man darf nicht mehr raus. Ist die Eintrittskarte erst einmal gekauft und ein mit tiefsinnigen Sprüchen und Texten („Mir ist sooo allein und ganz seltsam eng“) ausgestattetes Heftchen erstanden, geht es im Grätschschritt die steile Treppe 10 Meter tief ins zweite Kellergeschoß hinab. Schon schließen sich die Türen.

Kalt ist es in dieser ehemaligen Schnapsbrennerei. Modergeruch liegt in der Luft. Einige Glühbirnen an den mit Spinnweben überzogenen Gewölbewänden weisen den Weg. Und plötzlich ist man gefangen, und zu allem Übel bemerkt man das. 22 Besucher – mehr sind nicht zugelassen – begeben sich mit gemischten Gefühlen auf Erkundungstour. Auf 500 qm haben die beiden Künstler einen menschlichen Körper nachgebaut. Wäre da nicht das Schild „Zu den Genitalien“, wir hätten allerdings Mühe, das einfallsreiche künstlerische Konzept zu erkennen. Was sich einem bei der „Begehung dieser erfrischenden Erlebnis-Kunst“ (so der Handzettel) darbietet, ist alles andere als erholsam und auch nur der Temperatur halber erfrischend, dafür an manchen Stellen bemüht witzig.

Aus Pappmaché, Maschendraht, Sperrmüllresten und sonstigem Krimskrams ist eine Landschaft entstanden, die am Ende allein das Staunen darüber lehrt, heil entkommen zu sein. In Nischen wurde allerlei Schnickschnack untergebracht: Kleine Spiegelchen hängen von der Decke, schwarze Kochtöpfe stehen brav nebeneinander, Farbfotografien, die Pflanzen und Stauden abbilden, kleben an der Wand. Irgendwo stehen Gummisaurier und Echsen in einem Sandkasten, ein Bretterverschlag ist als Büßerstübchen mit Telefon und Anrufbeantworter hergerichtet, in der Fernsehecke plappert eine Lautsprecherstimme: „Wir fallen, wir kreisen...“ Spätestens da hat sich der Verdacht bestätigt: Hier haben zwei Spielwütige ihrem Trieb freien Lauf gelassen.

Selbstverständlich gibt es auch eine Klingel, die beim Berühren eines Drahtes ertönt, und ein Windrad, das mittels einer Kurbel zu bewegen ist. Holzleitern, wacklige Brückchen, enge Schlünde, in die man auf allen vieren hinabtaucht, aus dunklen Ecken ragende spitze Metallstäbe in Augenhöhe und schummrige Gänge, die man in Erwartung einer Falltür sorgenvoll durchstreift – sie sind nur das Vorspiel dessen, was einen schließlich erwartet. Denn nach einer dreiviertel Stunde ruft ein Trommelwirbel zum Herzen des Labyrinths. Dort wird pantomimisch die Geschichte vom Sterngrauch Nimmersatt, der unglücklich eine Müllerstochter liebt und sich schließlich selber auffrißt, erzählt. Obacht! Das Publikum muß allerlei Angriffe des wild gestikulierenden Grauchs über sich ergehen lassen. Begleitet wird die peinliche Veranstaltung vom herzzerreißend falschen Gesang der Trommlerin. Eine Flucht ist ausgeschlossen, es sei denn, man hat an den Bindfaden gedacht. Stephan Schurr

Labyrinth, Katzbachstraße 19, bis 29. Juli, Begehungen: Fr.–Mi. 14, 15.30, 17 Uhr. „Überraschungsveranstaltungen“: Mi. und Do. 19 und 21 Uhr. Eintritt: 15 DM. Tel. 785 61 22

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