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Autoverkehr ist vermeidbar: Moabiter Insel als Gallierdorf

Stadtplaner Rieseberg hat ein bestechend einfaches Konzept  ■ Von Dirk Wildt

Niemand ist glücklich über die Verkehrsverhältnisse in dieser Stadt. Gleichzeitig mangelt es dem Senat – in Berlin für die Planung des Verkehrs zuständig – an Ideen, wie der Stau auf der Straße aufgelöst werden kann, und an Geld, um den Öffentlichen Nahverkehr so auszubauen, wie es wünschenswert wäre. Der Vielzahl von Autounfällen und der Zunahme von Auspuffgasen sowie dem Klimakiller Kohlendioxid steht die Große Koalition ebenfalls hilflos gegenüber.

Prinzip Torte: Ein Stück Venedig in Berlin

An dieser Phantasielosigkeit gibt es inzwischen nicht nur scharfe Kritik – die Gesundheitsstadträtin von Tiergarten, Sabine Nitz-Spatz (AL), hat den Stadtplaner Hans- Joachim Rieseberg beauftragt, für Tiergarten ein beispielhaftes Konzept zu erarbeiten, um Verkehr stadtverträglicher und gesünder zu gestalten. Das Ergebnis ist überraschend: Der Autoverkehr kann fast um die Hälfte vermindert werden – ohne komplizierte Planungen und viel Geld, sondern mit einem leicht zu verstehenden und einfach zu verwirklichenden Konzept. Diese Studie wird in den kommenden Monaten den Bezirk Tiergarten beschäftigen, vermutlich aber auch Politiker und Initiativen anderer Bezirke. Wir stellen sie hiermit ausführlich vor.

Wenn man Autoverkehr vermeiden möchte, muß als erstes der Durchgangsverkehr verhindert werden. Autos und Lastwagen sollen nur noch in ein Gebiet hineinfahren, wenn sie auch dort hinwollen, nicht aber, wenn sie nur hindurchwollen. Deshalb legt Rieseberg eine ganz einfaches Prinzip zugrunde. Die in diesem Fall ausgewählte Moabiter Insel wird wie eine Torte in vier Stücke geteilt (in der Graphik die schwarzen Linien). Das heißt, Autos und Lastwagen – bis auf Ausnahmen wie Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen – können von einem Viertel in das andere nur noch gelangen, wenn sie die Moabiter Insel verlassen und sie umfahren.

Die Moabiter Insel hat Rieseberg deshalb für dieses Modell ausgewählt, weil sie als „ein Stück Venedig in Berlin“ besonders gut eingegrenzt werden kann. Das Gebiet innerhalb der Spree und des Westhafenkanals ist nur über Brücken erreichbar, die die Verbindungen zur Stadt herstellen, gleichzeitig aber auch die Menge des Verkehrs begrenzen.

Er unterstellt, daß Mobilität nicht bedeutet, innerhalb kurzer Zeit möglichst weite Strecken zurücklegen zu können, sondern daß kurze Wege möglichst schnell bewältigt werden sollten. Durch die Einrichtung der Verkehrszonen würden 40 Prozent weniger Kraftfahrzeuge über die Insel fahren, der „innerörtliche“ Autoverkehr der Anwohner würde ebenfalls deutlich reduziert.

Weil Autofahren dann unzweckmäßig geworden wäre, und auch durch die entstandene Ruhe und die städtebauliche Umgestaltung würde zum vermehrten Zu- Fuß-Gehen und zum Radfahren animiert werden. Die Verbindung der Insel mit der Stadt ist mit dem S-Bahn-Nordring (der in Betrieb geht), der S-Bahn im Süden und der U-Bahn-Linie 9 mit öffentlichen Verkehrmitteln verhältnismäßig gut hergestellt.

Nun kann nicht davon ausgegangen werden, daß sich die Verkehrspolitik in Berlin grundsätzlich ändert. Deshalb muß das „Prinzip Torte“ flexibel sein und als „verkehrliche Nische“ funktionieren, wenn ringsum völlig anderes passiert. Innerhalb des „gallischen Dorfs“, das den motorisierten Eindringlingen Widerstand leistet, sollen die einzelnen Viertel mit einer Ring-Stadtbahn verbunden werden (graue Linie). Die Tram fährt im Fünf-Minuten-Takt und braucht für eine Rundfahrt zwanzig Minuten. Für alle Bewohner wäre keine Haltestelle weiter als 500 Meter entfernt, häufig sogar sehr viel näher. Die Stadtbahn bietet an mehreren Stellen die Möglichkeit, auf S- und U-Bahn umzusteigen. Sie würde darüber hinaus das im Spreebogen geplante Regierungsviertel anbinden. Zusätzlich zu diesem System soll die Straßenbahn aus dem Bezirk Mitte über die Invalidenstraße, Alt-Moabit bis zum Mierendorffplatz verlängert werden.

Für Radfahrer bliebe eigentlich gar nichts mehr zu tun. Durch den erheblich reduzierten und nur noch in Schrittgeschwindigkeit erlaubten Autoverkehr werden gesonderte Radwege oder Fahrradstreifen überflüssig. Der heutige Anteil des Fahrradfahrens von sechs Prozent am Gesamtverkehr würde auf 25 bis 30 Prozent steigen. Mit dem „Asterix-Konzept“ könnten endlich wieder Straßen ansehnlich begrünt und zu verbindenden Plätzen gestaltet werden. Kreuzungen könnten durch Rundplätze ersetzt werden. An einigen ehemaligen Hauptstraßen könnten auf den gewonnenen Flächen Passagen gebaut werden, die ähnlich wie in mittelalterlichen Städten in Italien ein ganz anderes Straßenbild und andere Funktionen ermöglichten.

Damit wäre auch für die Fußgänger so viel getan, glaubt Stadtplaner Rieseberg, daß man an vielen Stellen sogar auf Spielplätze, die man jetzt künstlich in irgendwelche Ecken zwängen müßte, verzichten könnte. Die Straße böte Kindern, die aus dem Buddelkastenalter hinaus sind, eine fast ideale Spielfläche – varianten- und abenteuerreich, aber ungefährlich.

Die Zonen können unabhängig von der Einführung der Ringbahn und damit relativ schnell eingeteilt werden. Die Ringbahn könnte innerhalb von vier Jahren fahren – wenn, wie Rieseberg betont, die Planungen nicht der Verwaltung, sondern privaten Ingenieurbüros überlassen werden. Die Verlängerung der Straßenbahnlinie aus Mitte über Moabit nach Charlotttenburg dauere vermutlich erheblich länger.

Innerhalb von zehn Jahren könnte alles anders sein

Der Umbau von Straßen könnte mit Mitteln aus den normalen Straßenunterhaltungsmaßnahmen finanziert werden. Statt Poller sollten Bäume die Zonen begrenzen. An den Ein- und Ausfahrtstraßen zur Moabiter Insel müßten Hinweistafeln den Besuchern erklären, was sie erwartet. Die Kosten für den Bau der 7,9 Kilometer langen Ringbahn schätzt Rieseberg auf 55 Millionen Mark, die Verlängerung der Straßenbahnlinie auf 42 Millionen Mark. Zum Vergleich: Der vierspurige Straßentunnel unter dem Tiergarten soll zwischen 600 Millionen und einer Milliarde Mark kosten.

Rieseberg sieht für die Umsetzung des Konzepts keinerlei technische Hindernisse. Auch komme das Konzept mit sehr viel weniger Technik aus als die autogerechte Stadt. Autoverkehr würde tatsächlich vermieden werden, weil Autofahrer entweder auf den Öffentlichen Nahverkehr umstiegen oder auf Wege ganz verzichteten. Auspuffabgase und die Kohlendioxidemission würde radikal gesenkt, die Sicherheit auf den Straßen erhöht und die Stadt an Attraktivität gewinnen.

Der Wende in der Verkehrspolitik mißt Rieseberg eine ähnliche Bedeutung bei wie der sozialen Reformbewegung in den 20er Jahren, die „der Schock“ der Mietskasernenstadt des Berlin im 19. Jahrhundert ausgelöst hatte. Die damaligen Reformbemühungen seien ebenfalls daran orientiert gewesen, aus gesundheitlichen und stadtverträglichen Gründen die Fehler des 19. Jahrhunderts nicht zu wiederholen. Am Ende des 20. Jahrhunderts beeinträchtige dagegen der Verkehr – diesmal auch wohlhabende – Bürger so gravierend, daß eine neue Reformbewegung einsetzen müsse, die die Fehler der vergangenen 40 Jahre korrigiere.

Gegen diese Reform spreche nur die „Große Koalition der Unvernunft“. Doch wenn nur einige Bezirke eine ähnliche Planung wie Tiergarten vorlegen würden, dann sei die Zeit der autofixierten Stadtplanung bald vorbei. Die 1.500 geplanten Parkplätze auf dem Gleisdreieck würden genauso überflüssig wie die 33.000 Parkplätze um den Alexanderplatz.

Sein in vier Wochen erarbeitetes Konzept sei nur eine Grobstudie, die eine Voraussetzung für eine Feinstudie darstelle. Jetzt müßten die Diskussionen in den Ausschüssen der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Tiergarten geführt werden, die dann in einem Beschluß der BVV münden. Das Verfahren dauert nach Riesebergs Schätzung etwa eineinhalb Jahre. Die wesentlichen Teile des Konzepts selbst könnten in Zeitabschnitten von zwei bis fünf Jahren umgesetzt werden. Das Parken auf öffentlichem Straßenland würde schrittweise in zehn Jahren verboten werden. Die Straßenverkehrsordnung (StVO) bräuchte nicht geändert werden.

Wenn aber nicht bald entschlossen gehandelt werde, warnt Rieseberg, werde der Berliner Verkehr „in der totalen Bewegungslosigkeit des größten Verkehrsskollaps aller Zeiten“ enden. Mit „etwas Autoplanung, etwas Straßenplanung, etwas Stadtplanung, etwas S- Bahn- und etwas U-Bahn-Planung“ werde bald gar nichts mehr laufen.

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