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"Beim Betteln bin ich höflich"

■ Immer mehr Frauen leben in Berlin auf der Straße / Weibliche Obdachlosigkeit ist meistens verdeckt / Gesucht: Eine Wohnung oder ein Mann mit einer Wohnung

Berlin. Wenn die Bier- oder Schnapsflasche am Hansaplatz kreist, bekommen sie die Frauen zuerst. Sie werden auch beschützt, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt. Ihren Platz in einer der Obdachlosencliquen müssen sie sich jedoch erst erkämpfen. „Ein Typ hat mich aufgelesen, der brauchte eigentlich eine Frau“, erzählt Astrid. „Da lief bei mir nichts, aber ich habe geschickte Finger. Das haben die schnell gemerkt. Jetzt ist der Typ draußen, und ich bin drin.“ Es gebe zwei Frauentypen unter den Wohnungslosen, meint sie. Die einen, die sich durchsetzten, und die anderen, die bloßes Anhängsel von einem Mann blieben. „Bei einigen geht gar nichts mehr, die landen dann verpißt am Bahnhof.“„Was bleibt einem auch übrig, als den ganzen Tag zu saufen“, sagt Walli. Sie sei Vollalkoholikerin, sehe manchmal Dinge, die es gar nicht gebe und sei arbeitsuntauglich geschrieben. Seit ihrem 13. Lebensjahr hat sie immer wieder wegen Diebstählen, Hausfriedensbruch und Schwarzfahren in Heimen oder Gefängnissen gesessen. Sie ist immer mit ihrem Schlafsack unterwegs. Bevorzugt übernachtet sie am Halensee. Ihr ist die Clique zur zweiten Familie geworden. Sie war es, die ihr Rückhalt gab, als sie in der öffentlichen Toilette am Hansaplatz vergewaltigt wurde. „Als Frau bist du auf der Straße Freiwild“, sagt sie. Aber noch halte sie etwas auf sich, wasche und dusche sich regelmäßig und bleibe höflich beim Betteln.Angie schlug sich meist als „Untermieterin“ ihrer Verlobten durch. Im Winter kam sie in der Notunterkunft der Kreuzberger Jacobigemeinde unter. „Bei meinem Verlobten vorher ging es nicht mehr“, sagt die 28jährige. Seit sie vor zwei Jahren nach Berlin kam, hat sie keine Wohnung. Mit ihren Verlobten hatte sie schon in Dresden Pech. Ihren ersten verließ sie, nachdem er ihre neun Tage alte gemeinsame Tochter im Suff erschlug. Vor den Schlägen des zweiten floh sie nach Berlin. Angie will erst mal zu den Eltern einer verstorbenen Freundin nach Rostock fahren. Was dann käme, wisse sie nicht, sagt sie, schaut auf den Boden und zuckt die Schultern.Die Jacobigemeinde in Kreuzberg organisiert jeden Winter eine Notübernachtungseinrichtung für obdachlose Frauen. Seit Mitte April wird der Keller wieder von den Jugendgruppen als Fetenraum oder zum Töpfern genutzt. Im Winter standen Dusche und Waschmaschine den Obdachlosen zur Verfügung. Zur Küche haben die Bewohnerinnen nur in Ausnahmefällen Zutritt. „Nachdem wir im letzten Winter eine Junkie-Frau hier hatten, die am ganzen Körper offene und eitrige Stellen hatte, verlaust war und überdies aidskrank, haben wir das so beschlossen“, erinnert sich Ulrike Gerlach, eine der Betreuerinnen. Die Arbeit mit den Frauen sei nicht einfach gewesen, da sie auch Angebote wie ärztliche Sprechstunden, Begleitung auf Ämterwegen und kostenlose Kondome nicht wahrnähmen. Trotzdem will Ulrike Gerlach im nächsten Winter weitermachen.In den städtischen Einrichtungen Westberlins wurden Ende September 1.000 alleinstehende Frauen und 6.000 alleinstehende Männer gezählt. Über 4.000 Menschen haben als Mehrpersonenhaushalte keine Wohnung mehr, 2.500 Kinder sind in städtischen Notunterkünften untergebracht. Die neuesten Zahlen seien noch höher zu veranschlagen, da schon im letzten Jahr pro Monat etwa 1.000 Personen hinzugekommen seien, sagt Michael Haberkorn von der Senatsverwaltung für Soziales. Der Anteil der Frauen sei stetig angestiegen. „Die Dunkelziffer hat natürlich auch hier das Problem, daß sie dunkel ist“, so Haberkorn.

In der Beratungsstelle für Wohnungslose des Diakonischen Werks wird die Zahl der Wohnungslosen in Berlin auf 20.000 bis 40.000 Menschen geschätzt, mit einem Frauenanteil von etwa 16 Prozent. Bei Frauen ist allerdings die verdeckte Obdachlosigkeit stärker verbreitet als bei Männern. Einige Frauen, die in keiner Statistik auftauchen, kommen regelmäßig zum Frauenfrühstück in die Beratungsstelle. Frau P. mußte nach der Scheidung mit ihren drei Kindern die Wohnung verlassen. Sie lebte erst drei Monate bei ihrer Schwester, dann ein Jahr lang in Pensionen. Die Kinder mußten ins Heim. Jetzt hat sie über das Sozialamt eine Wohnung mit eineinhalb Zimmern bekommen, in der sie mit Freund und Kindern lebt. Ruth K. hat nach der Scheidung in verschiedenen Pensionen geschlafen. Jetzt läßt ihr geschiedener Mann sie wieder bei sich wohnen. „Das ist nicht einfach, wir streiten uns auch ständig“, sagt sie und starrt bewegungslos vor sich hin. Immerhin schlage er sie nicht mehr so oft.

Da Frauen viel mehr ertragen, ehe sie auf die Straße gehen, sind sie dann psychisch schon wesentlich angeschlagener. Psychische Erkrankungen folgen, sie sind manchmal auch ein Selbstschutz. „Frauen, die unter Verfolgungsvorstellungen leiden, versuchen ihre Erfahrungen in ein System einzuordnen und so erträglich zu machen“, so Kathrin Schenke, Mitarbeiterin der Beratungsstelle. Andere, die von ihrer Umwelt gar nicht mehr zu erreichen sind, ziehen sich ganz auf sich selbst zurück.

Obdachlosigkeit ist für Frauen kaum mit ihrem Selbstbild zu vereinbaren. Allein auf der Straße zu leben, steht im Widerspruch zu dem zurückgezogenen Hausfrauen- und Familienleben, zu dem sie erzogen worden sind. Sie versuchen daher, immer wieder Unterschlupf bei irgendwelchen Männern zu finden. „Auf der Straße bieten dann Formen der Zwangsprostitution einen gewissen Schutz“, so Schenke. Viele Frauen, die sich intensiv um eine Wohnung bemühen, bemühen sich mindestens so intensiv um einen Mann. Viele kommen in die Beratungsstelle, um Heiratsanzeigen in Zeitungen zu studieren. „Sie tun alles, um schnell wieder in ihre alte Rolle zu kommen“, sagt Beraterin Elfriede Schön. „Damit begeben sie sich meistens in eine neue Abhängigkeit – den Mietvertrag hat wieder der Mann.“ Corinna Raupach

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