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Das Recht, das in der Verfassung steht

■ Nach der Berliner Landesverfassung hat jeder Mensch das Recht auf eine Wohnung / Doch die Praxis sieht ganz anders aus

„Jedermann hat das Recht auf Wohnraum“, lautet es maskulin in Artikel 19 der Berliner Landesverfassung. 10.000 obdachlose Männer und Frauen sind unterdessen offiziell bei der Senatsverwaltung für Soziales registriert. „Die Dunkelziffer liegt jedoch weit höher“, berichtet eine Sprecherin der Verwaltung von Senatorin Ingrid Stahmer (SPD). Nach jüngsten Schätzungen fehlen rund 200.000 Unterkünfte, davon die Hälfte Sozialwohnungen. Wird bei diesen Horrorzahlen nun andauernd die Verfassung gebrochen?

„Nein“, meint Klaus Eschen, Richter des neugegründeten Verfassungsgerichts. „Denn es ist kein individuell einklagbares Recht“, urteilt der Jurist, „sondern ein Staatsziel.“ Das bedeute, daß die 10.000 Berliner Wohnungslosen zwar klagen könnten, sie hätten jedoch keine Chance. Außerdem sei die Landesverfassung dem Grundgesetz untergeordnet, erklärt Eschen. Dort ist bekanntlich das Recht auf Wohnraum nicht festgeschrieben. „Das Grundgesetz geht aber vor“, erläutert der Verfassungsrichter.

Elisabeth Ziemer, baupolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus, will es jetzt dennoch mit einer Klage versuchen. „Das Verfassungsgericht muß einmal dazu Stellung nehmen“, findet sie. Eine der Frauen, die vor kurzem ein leerstehendes Haus der US-Alliierten in Zehlendorf besetzten, müßte nur bereit sein, gerichtliche Schritte zu unternehmen. „Wir würden so etwas natürlich unterstützen“, sagt Ziemer. Das Recht auf Wohnen sei im Gegensatz zum Recht auf Arbeit „viel einfacher zu realisieren“.

„Als politische Aktion ist eine Klage sicherlich sinnvoll“, meint Abgeordnetenhaus-Kollege Otto Edel (SPD). Er hält das Vorhaben von Ziemer zwar für „ehrenwert“, doch bezweifelt Edel, daß es zum Erfolg kommt. „Das Ganze kostet Geld, weil man unterliegen wird.“ Das Recht auf Wohnraum sei eben nur ein „Programmrecht“, stimmt der baupolitische Sprecher der SPD dem Verfassungsrichter Eschen zu. „In Berlin fehlen 100.000 Wohnungen“, stellt Edel politologisch fest, „da wird das Recht auf Wohnen natürlich nicht erfüllt.“ Forderung der SPD bleibe weiterhin, für jeden „bezahlbaren und angemessenen Wohnraum“ zu schaffen. Das bedeute für jedes Haushaltsmitglied einen Raum sowie entsprechende Sanitäranlagen – halt „wie in einem reichen, mitteleuropäischen Land.“

Wolfgang Kliem, Wohnungsexperte der CDU im Abgeordnetenhaus, begrüßt ebenfalls den Artikel 19. Er sei schlicht ein „Fundament“. „Wir müssen nur durch die momentanen Engpässe“, ist seine Vorgabe. Der Wohnungsnotstand müsse „nach Prioritäten“ beseitigt werden. Menschen, die einen Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit haben – „etwa 21.000“ –, müßten schneller eine Bleibe bekommen. Zwei Aufgaben stellt Wolfgang Kliem der Politik und damit sich selbst: erstens sollte das Wohnungsbauprogramm des Senats, bis zum Jahr 1995 80.000 bis 100.000 Wohnungen „auf den Weg zu bringen“, vollendet, zweitens der „unbürokratische Wohnungstausch“ ermöglicht werden. Viele ältere Menschen lebten in zu großen Wohnungen, viele „Lebensgemeinschaften“ in zu kleinen.

Berlins oberster Baumeister, Bausenator Wolfgang Nagel (SPD), zeigt auch Verfassungstreue und stellt dazu fest: „Wir sind bemüht, den Verfassungsauftrag zu erfüllen. Wir werden aber daran sehr oft behindert – durch Privatinteressen, die Wohnungsneubau um jeden Preis verhindern wollen.“ Beispiele gebe es dafür in Berlin genug, so Nagels Sprecher Ralf Schlichting.

Behindert fühlt sich auch der Verband der Berliner und Brandenburger Wohnungsunternehmen (BBU). „Wir sind seit Jahren bereit, mehr Wohnungen zu bauen“, sagt BBU-Sprecherin Christa Fluhr, „das Land muß uns nur Grundstücke zur Verfügung stellen.“ 375 Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften gehören dem BBU an. Mit dem Recht auf Wohnraum habe sich der BBU allerdings noch nicht auseinandergesetzt, gesteht Fluhr ein. „Wir werden diesen Punkt aber das nächste Mal auf die Tagesordnung setzen.“

Hartmann Vetter, gelernter Jurist und Hauptgeschäftsführer des Berliner Mietervereins, fordert eine „Trendwende“ in der Wohnungsbaupolitik. Deshalb sei die Aufnahme des Rechts auf Wohnen in ein neues Grundgesetz nötig. Denn auch für Vetter ist die Lage eindeutig: „Klagen bringt im Moment nichts.“ Die Rechtsprechung auf Bundesebene habe in den vergangenen Jahren gezeigt, daß die meisten Urteile „gegen die MieterInnen“ gefällt werden. Darum fordert der BMV-Chef ein „Gegengewicht“ zum Recht auf Eigentum, das in Artikel 14 des Grundgesetzes festgeschrieben wird. Mit dem Recht auf Wohnen, so glaubt Vetter, werde sich dann auch die Rechtsprechung ändern.

Viel weiter gehen die Postulate von Gerhard Heß, Sprecher der konkurrierenden Berliner Mietergemeinschaft: „In einer neuen Verfassung muß es ein einklagbares Recht auf Wohnen geben.“ Zur Zeit hätten alle „nur das Recht auf einen Platz im Obdachlosenheim“. Gerhard Heß betont immer wieder, daß es sich um eine „West- Berliner Verfassung“ handelt und spielt damit auf die Verfassung der DDR an.

Dort war seit dem 7. Oktober 1974 im ersten Absatz des Artikel 37 zu lesen: „Jeder hat das Recht auf Wohnen für sich und seine Familie entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht durch Förderung des Wohnungsbaues, die Werterhaltung vorhandenen Wohnraums und öffentliche Kontrollen über die gerechte Verteilung des Wohnraums zu verwirklichen.“ Nach Absatz zwei stand den BürgerInnen der DDR sogar Rechtsschutz bei Kündigungen zu.

Das will nun auch Mietervertreter Heß: „Einen eng begrenzten Mieterschutz“, bei dem nur ein Gericht Kündigungen aussprechen kann. Zudem sollen die Kommunen auf ihr Belegungsrecht bei Sozialwohnungen pochen. Dies meint auch Elisabeth Ziemer: „Der Senat muß Zugriff auf Sozialwohnungen haben statt der Wohnungsbaugesellschaften.“ 1989 habe der Senat dieses Recht an die Gesellschaften abgegeben.

Gerhard Schiela (FDP), Abgeordnetenhaus-Mitglied aus Treptow, vergleicht gerne beide Verfassungen. „Ich möchte nicht die Ansicht vertreten, daß in der DDR alles wunderbar war.“ Mit dem einklagbaren Recht auf Wohnen sei man „voll in die Staatsverschuldung gefahren“. „Ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage wurde der Wohnungsbau propagiert“, erinnert er sich. Hinzu sei die „heilige Kuh“ mit den niedrigen Mieten gekommen. Schiela warnt deshalb, wie für einen Liberalen üblich, vor zu viel staatlichem Sozialwohnungsbau. Auch private Investoren sollten Landesgrundstücke bekommen, um Wohnungen zu errichten. Schielas Motto heißt: „Die Schwachen schützen!“ So sollen seiner Meinung nach alle Bewohner einer Sozialwohnung mit hohem Einkommen (Fehlbeleger) stärker zur Kasse gebeten werden oder aus ihren vier Wänden raus.

Politisch gewertet, sieht der FDP-Politiker bei der momentanen Situation in Berlin einen Bruch des Artikel 19. Schiela glaubt nämlich nicht, daß Bausenator Nagel sein Versprechen wahr machen kann, 80.000 bis 100.000 Wohnungen „auf den Weg zu bringen“. Der Treptower rechnet deshalb mit schlaflosen Nächten bei Nagel: „Tag und Nacht sollte er darüber nachdenken, wie privates Kapital kommt.“ Peter Thun

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