: Alltagskultur und Cicerone
Neuer Anspruch und Alternativen, alte Konzepte und die Innenansicht ■ Von Christel Burghoff
„Alternativ reisen ist vorwiegend der Reisestil der Angehörigen der städtischen Subkultur“, hieß es im ersten Band der erfolgreichen Reiseführer-Reihe „Anders-Reisen“. Rowohlt war der erste etablierte Großverlag, der auf die Siebziger-Jahre-Bewegung im Reisesektor, den „Alternativ“- und „Rucksacktourismus“, mit einer neuen Konzeption reagierte und inhaltliche Ansprüche formulierte: „Die soziale Isolation und politische Enthaltsamkeit des Tourismus aufzuheben, die fremde Wirklichkeit unverstellt und mit Lust zu erleben ...“ – es sollte eine andere, lebendige Wahrnehmung vermittelt werden. Das Konzept setzte auf Streiflichter durch die Alltagskultur und auf exemplarische, ungewöhnliche Routenbeschreibungen, denn oft braucht es nur einen „Schritt abseits der üblichen Routen“, so schreibt es der Herausgeber in jeden neuen Band hinein, um sich einen „anderen Alltag“ zu erschließen. Im professionell geglätteten Alternativ- Outfit erschien 1980 als erster Taschenbuch-Band „Tips und Tricks für Tramps und Travellers“, der allerdings auch problematische Schnorrertips enthielt, wie die Kritik harsch bemängelte. Verdienstvoller war die praktische Hilfeleistung, die alleinreisende Frauen mit den „Frauenreisebüchern“ gegeben wurde. Der Anspruch auf eine andere Wahrnehmung und Darstellung wurde vor allem im Städteband „Rom“ exemplarisch eingelöst: Der Rom-Urlaub versprach ein Lernerlebnis zu werden.
Die jüngsten Bände, beispielsweise „Barcelona“ (1992), sind wieder konventioneller aufgebaut: halb Lesebuch über Kultur und Konsum, halb Reiseteil mit einem abschließenden Servicekapitel. Auch der Anflug von Authentizität und die Aufbruchstimmung, die die ersten Alternativreiseführer verbreiteten, sind verschwunden. Leider scheint nichts Besseres nachzufolgen: Im Barcelona-Führer dominiert die altbekannte touristische Sicht, die den Alltag in der Fremde bedingungslos schönt. „An allen Ecken und Enden putzt sich die Stadt“, wird über die Zeit vor der Olympiade berichtet. Und statt Einblicke in Subkultur gibt es Szene-Plausch.
„Anders-Reisen“, Reinbeck bei Hamburg, Rowohlt-Verlag, 16, 90 - 24,90 Mark.
An den Reisebüchern von Prestel- Verlag ist der Zeitgeist schlichtweg vorbeigegangen. Wann immer man sich am heimatlichen Kaminfeuer dem ausufernden Redefluß und der Führung eines „Cicerone“ hingeben möchte, dann sollte man einen Prestel-Landschaftsführer zur Hand nehmen. „Treten wir ins Freie, so finden wir in der natürlich wirkenden Umgebung gestrandeter, meergebleichter Zedern weitere Totems und die Replik eines indianischen Langhauses...“ (Kanada). Er vermittelt das Flair der bewährten Studienreise. „Nach zwei Tagen Stadtbesichtigung wird neben der unvermeidlichen Ermattung die Sehnsucht wachsen, über die Wasserarme und Inlets hinüber jenen hier allgegenwärtigen Gebirgen näher zu kommen...“ Falls das Wetter da nicht mitspielt, so „sollte uns das nicht unnötig verdrießen, da derselbe Wind die Wolken auch ebenso rasch wieder wegweht“. Rührig ums Wohlergehen besorgt, füttert Prestel den geistes- und kulturbeflissenen Leser mit Beschreibungen von Land und Leuten, reiht Anekdoten und kleine persönliche Erlebnisberichte aneinander. Mitunter sind die Geschichten recht informativ und aufschlußreich wie beispielsweise im Landschaftsführer Bali, der – vom reinen Plauderton abweichend – mehr die klassische Reiseberichterstattung pflegt, wie man sie aus den großen Zeitungen kennt.
Das Gegenstück zu Prestels Landschaftsführern stellen die Städteführer dar: Sie bereiten das touristische Wissensuniversum lexikalisch penibel (mit Daten, Zahlen) auf und sind mit sauberen, kleinen, die Sachverhalte verdoppelnden Fotos bestückt. Rom, Berlin...: Städte in Hab-acht-Haltung, die bereit sind für den Touristenansturm. Nie war Berlin sauberer und menschenleerer als auf Prestels bunten Fotos. Die Landschaftsbücher werden als bibliophile Kostbarkeiten angeboten, die hochglänzenden Städteführer sind praktisch länglich und passen in die Jackett-Tasche.
Prestel-Verlag, München, Landschaftsführer 38.- bis 48.-Mark, Städteführer 29,80 Mark.
Die Reisebücher des VSA-Verlages sind der Gegenentwurf zum geschichtslosen Führer durch tote Steine. Statt eines Gerüstes aus Zahlen und Namen „großer Köpfe“ präsentieren sie Sozialgeschichte. Am besten die Reihe: „Städte zu Fuß“ (neben den Städteführern werden Regional- und Freizeitführer und Reisebücher angeboten). Man geht auf „Stadtteilrundgängen“ Straßen ab und erfährt, wer zu welcher Zeit bestimmte Kaffeehäuser besuchte, an deren Stelle heute vielleicht ein Kaufhaus steht, oder wie in der heute so sauberen Tiefgarage die örtlichen Nazis ihre Folterpraxis organisiert hatten, oder – auf einem „Frauenrundgang“ – wie sich aus dem „Damenclub“ die autonome Frauenbildungsstätte entwickeln konnte. Es wird über die Hintergründe von Stadtbebauung informiert – wer ahnt schon, daß sich beispielsweise bei Kassels Wiederaufbau die Kahlschlagpläne der Nazis durchgesetzt haben? Die moderne Stadt, Hort der documenta, räumte nach alten Plänen verkehrsgerecht ab, statt Vergangenheit zu rekonstruieren.
Die einzelnen „Stadtteilrundgänge“ sind mit einer Fülle von Material bestückt (Fotos, historische Exkurse, aktuelle Berichte, Sachinformationen), aus dem sich sozialgeschichtliche Zusammenhänge herstellen lassen. Die Stärke der VSA-Führer liegt in der Position, die sie einnehmen: Die „Narben“, die „zur Identität gehören“, nicht wegzuretuschieren und „normales Alltagsleben“ aufzugreifen. Sie nehmen damit auf, was andere Reiseführer systematisch weglassen. Mehr dicke Lesebücher als schnelle Reiseführer, sind die Materialbände nicht leicht konsumierbar. Je nach Redaktionsteam sind sie von unterschiedlicher Qualität, und der gründliche Tiefgang ist nicht immer lesefreundlich aufgearbeitet. Das Konzept, die Innenansicht einer Stadt und Hintergrundinformationen in den Vordergrund zu stellen, macht sie allerdings für die Bewohner selbst genauso empfehlenswert wie für interessierte Besucher.
VSA-Verlag, Hamburg, Stadtführer 24,80-29,80 Mark, Reiseführer 32.- bis 39,80 Mark.
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