■ Standbild: Mehr von diesem Stoff!
arte-Themenabend: „Nase“, Dienstag, ab 20.40 Uhr
Daß die Nase ein besonderes Organ ist, dafür hat man bei arte einen Riecher. Der Themenabend über den Gesichtserker präsentierte einen Film über Parfüm und danach einen über die Karikatur der jüdischen Nase. Anhand von Expertengesprächen rollte Henryk M. Broder eine Phänomenologie der Nasenverunglimpfungen auf. Ein Film, der viel kurioses Material zusammenträgt.
So führte ein Jacques Joseph 1895 die erste Nasenoperation an der Berliner Charité durch. Nach deren Gelingen wiederholte der Arzt diesen kosmetischen Eingriff laut Aussage eines Experten rund 10.000mal und befreite Deutsche von einer, wie der Film deutlich macht, vermeintlich jüdischen Physiognomie. Fotografien dokumentieren tanzende Menschen mit bandagierten Nasen. Toll. Der Film ist brav und solide gemacht, man erfährt viele Details, aber im Grunde nichts wirklich Neues.
M. Heinrichs darauffolgendes fiktives Dokumentarspiel „Der Herostrat“ reißt einen dagegen förmlich vom Stuhl. Ohne die Ankündigung im Titel, daß es sich um eine Fiktion handele, wäre die Authentizität der Darstellung unanzweifelbar. Die Geschichte, die der Autor entfaltet, ist so verrückt, daß sie nur wahr sein kann. Im März 1981 verübte ein gewisser John W. Hinkley ein Attentat auf den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, das scheiterte. Tatsächlich, so erfahren wir nun von Hinkley, war dieses Attentat inszeniert. Diese Inszenierung sollte den Vorwand liefern, Reagan unauffällig in ein Krankenhaus einzuliefern, damit die Öffentlichkeit nicht erfuhr, daß ihr Präsident nasenkrank ist.
Hinkley wurde als vermeintlicher Attentäter in eine Psychiatrie eingeliefert, wo er, wie er uns glaubhaft versichert, irre geworden ist. Der ganze Film besteht nun aus einem Interview mit diesem Hinkley, der, um seinem Leben hinter Gittern einen Sinn zu verleihen, eine Art transzendentale Phänomenologie der Nase entwickelt hat, die er dem verdutzten Interviewer detailliert unterbreitet: „Gerade weil man die Nase normalerweise kaum sieht, reißt ihr Fehlen ein unvorstellbares Loch in den Schädel.“ Sowohl vom formalen Aufbau (schummeriges Schwarzweißbild) als auch von der inneren Logik der Nasen-Theorie her ist „Der Herostrat“ ein genialer Wurf. Die abstruse, aber glaubhafte Nasentheorie Hinkleys („Die Nase ist Statthalter des Denkens im Gesicht“) ähnelt im Aufbau Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Die Struktur von Schrebers berühmter klinischer Psychose – gemäß der der Wahn ein exzessiver Selbstdefinierungs- und Selbstheilungsversuch ist, der alle psychischen Energien restlos absorbiert (Besessenheit) –, wird beispielhaft durchgehalten.
Detailgenau erklärt Hinkley den Übergang zwischen dem akustischen Erleben der Politik (Hitler) bis hin zur rein optisch wahrgenommenen Staatsführung (Kennedy). Anhand der Nasentypologie aller US-Präsidenten beschreibt er Reagans Anomalie. Nur durch deren unauffällige Beseitigung konnten verheerende Folgen vom Staat abgewendet werden: Auf Kosten des armen Hinkley, der den Staat auf seinen Schultern trägt und dem in seiner von Tausenden von Nasenfotografien tapezierten Zelle niemand glaubt. Außer mir. Mehr von diesem Stoff! Manfred Riepe
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