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Sechslinge auf Krankenschein erschlichen Von Ralf Sotscheck

Wer Sechslinge bekommt, hat ausgesorgt – jedenfalls meistens. Die 29jährige Jean Vince aus dem englischen Grimsby hatte zunächst Glück: Die fünf Mädchen und ihr Bruder kamen Mitte Mai zwar elf Wochen zu früh zur Welt und wogen nur zwischen ein und zwei Pfund, haben inzwischen aber eine Überlebenschance von 80 Prozent. Während die gesamte britische Presse vor Freude und Rührung aus dem Häuschen geriet, nahm der stolze Vater Jan, 36, sofort die Vermarktung in die Hand. Sechslinge können nämlich auch relativ wohlhabende Familien in den Ruin treiben, wenn die Sponsoren fehlen. Schließlich kann man weder Kleidung noch Spielzeug mehrfach verwenden, von den Schulgebühren ganz zu schweigen. Doch zum Glück gibt es Philip Ettinger, dessen Werbeagentur sich auf Sechslinge spezialisiert hat – kein Wunder, ist der Markt zwar klein, aber ungemein lukrativ. Ettinger ist schon seit Jahrzehnten im Geschäft und hat 1983 die Coleman-Sechslinge und drei Jahre später die sechs Waltons höchst erfolgreich gemanagt. Im Handumdrehen hatte Ettinger auch für Jean und Jan Werbeverträge mit zahlreichen Babynahrungs- und Bekleidungskonzernen im Wert von ca. zwei Millionen Mark ausgehandelt. Die Zukunft der fünf Mädchen und des Knaben schien gesichert. Dann schlug jedoch die Boulevardpresse zu, die die Sechslinge schon bis zum Erbrechen abgemolken hatte und nach einem Dreh suchte, um die Story noch ein wenig am Leben zu erhalten. Und womit klappt das besser, als mit einem zünftigen Rufmord?

So schlugen vier Sonntagszeitungen gleichzeitig zu. Die erste enthüllte, daß Jean und Jan gar nicht verheiratet sind. Das zweite Blatt verbreitete, daß die beiden gar getrennt leben. Die dritte Zeitung hatte herausgefunden, daß Jan bereits vier Kinder hat – eins von Jean und drei von seiner geschiedenen Frau, die den Ehemann zur Freude des Reporters – oder hat er etwa dafür bezahlt? – als Schwein abstempelte. Die drei Kinder hauten in die gleiche Kerbe: „Papa ist ein Arschloch.“ Das vierte Sonntagsblatt setzte dem freilich die Krone auf. Die Zeitung behauptete, daß Jeans ehemaliger Schwiegervater seine Frau mit Pfeil und Bogen ins Jenseits befördert habe. Das war den potentiellen Sponsoren denn doch zuviel: Sie ließen die Verträge platzen. Wer will schon seine Produkte von Kindern anpreisen lassen, in deren Familie offensichtlich nicht nur Ehebruch die Norm ist, sondern darüber hinaus ein bizarrer Mörder vorkommt?

Die sogenannten Qualitätszeitungen gingen die Geschichte etwas subtiler an. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß Jean gar nicht berechtigt war, Sechslinge zu bekommen. Die Fruchtbarkeitsbehandlung auf Krankenschein, die nicht selten zu Mehrlingsgeburten führt, unterliegt nämlich strengen Kriterien. Berechtigt sind normalerweise nur verheiratete, kinderlose Frauen. So haben verschiedene Politiker und Kirchenvertreter bereits gegen die Nachlässigkeit in Jean Vinces Fall protestiert – mit Erfolg: Gesundheitsministerin Virginia Bottomley hat angekündigt, die Richtlinien zu verschärfen, damit sich in Zukunft niemand mehr Sechslinge auf Krankenschein erschleichen könne.

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