: Der Affront von Wimbledon Von Andrea Böhm
Es mag der königlichen Verwandtschaft in der Ehrenloge von Wimbledon gar nicht aufgefallen sein. Oder sie haben ihre Indignation perfekt hinter ihrer adeligen Physiognomie verborgen. Jedenfalls konnte man es durchaus als Affront betrachten, daß beim Herrenfinale auf dem Center- Court ausgerechnet am 4. Juli zwei Subjekte namens Pete Sampras und Jim Courier gegeneinander antraten, die heute noch Untertanen der britischen Königin wären, hätte nicht vor genau 217 Jahren eine Versammlung amerikanischer Kolonisten das Schriftstück eines gewissen Thomas Jefferson abgesegnet und der englischen Krone sinngemäß bedeutet, sie solle sich zum Teufel scheren.
Seitdem hat dieses Datum in den USA ähnlichen Stellenwert wie der 14. Juli in Frankreich oder einst der 1. Mai in der Sowjetunion. Nur bei der Art des Feierns unterscheiden sich die Völker. Die Amerikaner verballern abends tonnenweise Feuerwerkskörper – in New York ähnlich anarchisch und willkürlich wie in Berlin zu Silvester, in Washington sehr gesittet und ästhetisch als Nachtisch zum „Fourth of July“- Picknick in Sichtweite des Weißen Hauses. Tagsüber gehen sie die Shopping Mall lang und kaufen, was die Kreditkarte hergibt.
Ansonsten feiert man an diesem Tag mit Paraden und Reden die Helden und Ideale der amerikanischen Revolution: 1. Alle Menschen sind gleich (mit Ausnahme versklavter Schwarzer, Frauen und Indianer, die gar nicht gleich sein konnten, weil sie keine weißen Männermenschen waren); 2. Lieber sterben, als in Unfreiheit zu leben. (Wer allerdings fünf Pfund aufbrachte, um sich wie zum Beispiel im Bundesstaat Connecticut von der Wehrpflicht loszukaufen, der konnte das Sterben den Ärmeren überlassen); 3. Steuern sind im allgemeinen ein Werk des Teufels – und ganz besonders dann, wenn sie an die britische Krone abgeführt werden müssen. Das steht natürlich nicht in der Unabhängigkeitserklärung, weil solch schnöde Beweggründe in einem solch ehrwürdigen Dokument nichts zu suchen haben.
Einzig ein kanadischer (sic!) Journalist hatte anläßlich des 4. Juli 1993 die Courage, in der Washington Post darauf hinzuweisen, daß es bei der Unabhängigkeitserklärung 1776 weniger um Freiheit und republikanischen Geist als um Landbesitz und Geld ging. George Washington hat den Unabhängigkeitskrieg wohl deshalb mit soviel Verve geführt, weil er als Tabakfarmer bei britischen Gläubigern mit Tausenden von Pfund in der Kreide stand. Davon abgesehen, hatten die Kolonisten damals wie heute keine Lust, Haushaltslöcher mit neuen Steuern zu stopfen – nur ging es damals um die Defizite der britischen Krone von bescheidenen 130 Millionen Pfund, während die Amerikaner in aller Unabhängigkeit heute zwischen 300 und 400 Millionen Dollar pro Jahr an Staatsschulden anhäufen.
Nun läßt sich spekulieren, was passiert wäre, hätte der gute George den Krieg gegen die Krone verloren. Dann wäre er erstens nie Präsident der USA geworden, hätte zweitens seine Schulden zurückzahlen müssen, und drittens wäre das Finale in Wimbledon anders angekündigt worden: Jim Courier aus der Kronkolonie Florida gegen Pete Sampras aus der Kronkolonie Kalifornien.
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