: Der musikalische Fallturm
■ Demnächst: Das angesagteste „Musikfest 1993“ aller Zeiten
„Topstars“ wird's hageln, „spektakulär“ wird's zugehen, zumal einige „Konzerthighlights“ durchaus auch in Bahnhofshallen und Schwimmbädern „plaziert“ werden konnten, wie der Organisator Thomas Albert vor der Presse ausrief, und vollends als „Standortfaktor“ wird das heurige Musikfest nahezu an die „Bedeutung des Fallturms“ heranreichen; so der Bildungsstaatsrat Hoffmann im Rahmen seiner Begabung zum Überschwang.
Am 28. August fängt es an; der Vorverkauf läuft seit zwei Wochen, also sehen Sie zu, daß Sie für folgende Kulinaritäten noch Karten kriegen: Am 1.9. trifft sich unsere putzmuntere Kammerphilharmonie mit den Jazzklassikern vom „Art Ensemble of Chicago“ zu einem zünftigen Crossover, und zwar, wie sich's gehört, im ehemaligen Schwimmbad zu Bremerhaven. Dort werden Werke von Wilfried-Maria Danner, von dem Jazzgitarristen Klaus Obermaier und vom großen Lester Bowie uraufgeführt. Achten Sie besonders auf des Letzteren Trompete; Bowie, einer der Gründerväter des „Art Ensemble“, hat eine glückliche Neigung zum Ausgefeiltesten.
Am 19.9. wird sich gar die Abfertigungshalle des Columbus- Bahnhofs in Bremerhaven der Kunst auftun. Die Bahn läßt eigens Sonderzüge einrollen, und gleich nebenan ist das NDR-Sinfonieorchester unter dem Lieblingsapostel der historischen Aufführungspraxis, John Eliot Gardiner, zu hören, mit Blick übrigens auf die Außenweser, wo selbstverständlich auch noch ein visuelles Spektakelchen inszeniert wird. Es erklingen die gottvollen Haydn-Variationen von Brahms, dazu Vokalwerke von Kurt Weill und Richard Strauss; es singt Anne-Sofie von Otter.
Die aufmerksamsten Leser haben's schon bemerkt: Bremen ist nicht mehr alleiniges Zentrum des Festes; auch Bremerhaven hat vier Konzerte abgekriegt, und ans Umland von Kniphausen bis Leer ist auch einiges verteilt worden, wohl auch weil ohnehin die bremische Metropole gleich nach dem Musikfest vom Bachfest erschüttert werden wird.
In Bremen fängt das Musikfest am 28.8. mit einem Open-Air auf'm Domshof an, allwo das Russische Nationalorchester den unvermeidlichen Tschaikowsky und allerdings auch Mozarts Klavierkonzert in c-moll geben wird. Für dieses Orchester hat sich der Pianist und Dirigent Mikhail Pletnev die Besten aus der Konkursmasse der SU zusammengesucht; entsprechend gleißend ist der Ruf, der ihm vorauswallt.
Die historische Aufführungspraxis, nach wie vor Schwerpunkt des Musikfestes, wird vor allem in der handgeschnitzten Oberen Rathaushalle zu hören sein. Dort spielt das Brodsky-Quartett und das Leonardo-Trio und sechsmal das „Trio Sonnerie“ mit sechs verschiedenen Bach-Programmen, darunter der ganze Bach für Solovioline. Das „Orchestra of the Age of Enlightenment“ unter Frans Brüggen wird Beethovens Neunte historisch-kritisch erneuern; Thomas Albert (Akademie für Alte Musik) verspricht „Unerhörtes“. Und in der Glocke schließlich wird der Kometenschweif des jungen Simon Rattle aufglühen, der mit seinem „City of Birmingham Symphony Orchestra“ Bartok, Schönberg und Elgar darbietet.
Die Kosten des Musikfestes betragen knapp 2 Millionen Mark; davon zahlen Kultur- und Wirtschaftsbehörde je 300.000; das Publikum übernimmt, wenn es Lust hat, voraussichtlich 450.000, und 700.000 Mark kommen von Sponsoren, die sich alle je ein Konzert namentlich gekrallt haben. Wir wollen ihrer eine Minute gedenken: Eduscho, Jacadi, Telekom, Möbel Meyerhoff, Koerber Wohnen, Flamme, Bremer Landesbank, Sparkasse, Mercedes-Benz, Beck's, Lufthansa, Maritim, Radio Bremen, Nordsee-Zeitung und Weser-Kurier. Nur die taz präsentiert noch immer nichts außer Quittungen. schak
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