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Der bessere Hamburger

■ Vor 50 Jahren wurde Hamburg fast vollständig zerstört

Fünfzig Jahre ist es an diesem Wochenende her, daß alliierte Bomben die Hansestadt Hamburg zu großen Teilen zerstörten. Der Hamburger Schriftsteller Hans Erich Nossack (1901 bis 1977), der 1933 in den verhaßten Kaufmannsberuf geflohen war, um den Nachstellungen der Nazis zu entgehen, erlebte den Angriff von außen, am Nordrand der Lüneburger Heide. „Möge es recht schlimm werden!“, so wünschte er sich seine Rache, oder doch nicht: Die Stadt Hamburg, in die er nach dem eine Woche dauernden Angriff hineinfuhr, war mit Feuer und Schwefel vernichtet worden, eine biblische Vernichtung. (Der Angriff lief unter dem Namen „Unternehmen Gomorra“.) Nossack fand sein Kontor weitgehend zertrümmert, von seiner Wohnung war nichts mehr übrig geblieben, Manuskripte und Tagebücher aus fünfundzwanzig Jahren fast vollständig verschwunden. Später sah er in dieser Katastrophe den Anfang seiner „echten“ Schriftstellerlaufbahn, die mit dem Bericht „Der Untergang“ beginnt.

Wo Regierungssprecher Vogel eine Teilnahme des Bundeskanzlers an einer Gedenkveranstaltung im nächsten Jahr anläßlich der Landung der Alliierten in der Normandie mit der Begründung ablehnt, das sei doch nichts für Helmut Kohl, weil die deutschen Soldaten dort nicht so arg erfolgreich waren; wo der Herr Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (übrigens auch aus Hamburg) vor Erregung am ganzen Leib zittert, weil er endlich Gelegenheit zur Feindbewährung erhält; wo deutsche Soldaten sich endlich wieder aufmachen dürfen nach Deutschostafrika (hat ja mal uns gehört!), um sich ein winzigkleines Plätzchen an der Sonne zu erobern; – da kann der dezente Hinweis nicht schaden, daß Krieg nicht unbedingt lustig ist. Hans Erich Nossack, dessen Werk im Suhrkamp-Sarkophag versorgt liegt, ist ein Autor, den man wieder lesen muß, wie die Auszüge aus „Der Untergang“ auf dieser Seite belegen. Willi Winkler

Kurz nach Wilhelmsburg begannen die Zerstörungen, auf der Veddel hatte man bereits das Bild der völligen Vernichtung vor sich. Ach, während ich in der Erinnerung diese Straße nach Hamburg hinein wieder fahre, treibt es mich anzuhalten und abzubrechen. Wozu? Ich meine: Wozu dies alles niederschreiben? Wäre es nicht besser, es für alle Zeiten der Vergessenheit preiszugeben? Denn die dabeigewesen sind, brauchen es nicht zu lesen. Und die anderen und spätere? Wie, wenn sie es nur läsen, um sich am Unheimlichen zu ergötzen und ihr Lebensgefühl dadurch zu erhöhen? Ist dazu eine Sintflut nötig? Oder ein Gang in die Unterwelt? Und wir, die wir dort gewesen sind, wagen nicht einmal eine mahnende Prophezeiung auszusprechen. Noch nicht!

Oder ist dies eine Bitte an die anderen, Nachsicht mit uns zu haben, wenn wir nicht mehr so sind, wie man uns erwartet, nicht mehr so anwesend, nicht mehr so selbstverständlich?

Ich bilde mir nicht ein, einen ersten Eindruck wiederzugeben. Es wäre auch falsch; es ist auffallend, daß man sich durch wiederholte Besuche nicht an das gewöhnte, was man sah, oder dagegen abstumpfte. Jedesmal, wenn man sich aus dem Dunstkreis der Stadt wieder gelöst hatte, war es wie das Erwachen aus einer Ohnmacht. Oder man war verwüstet und vor Erschöpfung teilnahmslos wie ein Dichter, der mit den Dämonen Zwiesprache hielt. Nicht etwa vor Kummer und Schrecken, wie es früher war, wenn wir unter zehn Häusern eines zerstört sahen.

Dies eine, aus der Mitte der Lebenden gerissen, konnten wir betrauern und zugleich um das Leben der anderen zittern. Aber nun, wo nichts mehr da war? Nicht die Leiche der Stadt, nicht ein totes Bekanntes, das zu uns sprach: Ach, gestern, als ich noch lebte, war ich deine Heimat, – nein, zu trauern brauchte man nicht. Was uns umgab, erinnerte in keiner Weise an das Verlorene. Es hatte nichts damit zu tun. Es war etwas anderes, es war das Fremde, es war das eigentlich Nicht-Mögliche.

Im Norden Finnlands gibt es vor Frost erstarrte Wälder. Wir hatten ein Bild davon in unserer Wohnung hängen. Aber wer denkt dabei noch an Wald? Es ist nicht einmal das Gerippe eines Waldes. Gewiß, es ist etwas da, sogar mehr, als wenn es nur Gerippe wäre, aber was bedeuten diese Zeichen und Runen? Vielleicht die unausdenkbare Umkehrung des Begriffes Wald?

Ich sah die Gesichter derer, die neben mir auf dem Wagen standen, als wir auf der breiten Einfallstraße über die Veddel zur Elbbrücke fuhren. Wir waren wie eine Reisegesellschaft, es fehlte nur an dem Schalltrichter und dem erklärenden Geschwätz eines Reiseführers. Und schon war alles ratlos und wußte sich das Fremdartige nicht zu erklären. Wo früher der Blick auf Häuserwände stieß, da dehnte sich eine stumme Ebene bis ins Unendliche. War es ein Friedhof? Aber welche Wesen hatten dort ihre Toten beigesetzt und ihnen Schornsteine auf die Gräber gestellt? Schornsteine, die wie Ehrenmale, wie Dolmen oder mahnende Finger als einziges aus dem Boden wuchsen. Atmeten die darunter Liegenden durch diese Schornsteine den blauen Äther ein? Und ruhte dort, wo zwischen diesem seltsamen Gestrüpp eine leere Fassade wie ein Triumphbogen in der Luft hing, wohl einer ihrer Fürsten und Helden? Oder war das der Rest einer Wasserleitung wie bei den alten Römern? Oder war dies alles nur ein Kulissenaufbau für eine phantastische Oper? – Wieviel haben wir doch in der Schule gelernt, wie viele Bücher gelesen und Abbildungen bestaunt, aber hierüber hatte noch niemand berichtet. Gab es also doch noch unerforschte Weltteile? Ich sah in allen Augen dies aufmerksame, gespannte Suchen nach außen und ein vergebliches Vergleichen nach innen. Dies Erwarten, daß sich irgendwo etwas zeigen würde, was das Rätsel löste, und das wir auf keinen Fall übersehen dürften.

Nur auf der kurzen Strecke über die Elbbrücke löste sich der Bann für einen Augenblick und alle begannen die Türme der Stadt zu zählen. Ach, und mit welchen Kosenamen wurden sie einzeln aufgerufen! Und wo war der schönste von ihnen, der Turm der Katharinenkirche? Und warum hatte sich das Rathaus in eine Pagode verwandelt? – Doch damit waren wir schon über den Fluß hinüber und fuhren in den Friedhof ein.

Gleich zur Linken brannte ein riesiger Kokshaufen – er erlosch erst nach drei Wochen –, und sekundenlang wurde man von glühendem Höllenatem angehaucht, wie um gefeit zu werden, ehe man passieren durfte, und dann war man innerhalb. Der Wagen schwankte und tastete sich durch den Paß, der zwischen den Trümmern notdürftig freigelegt war, über Geröllhalden zusammengebrochener Gebäude, an Kratern vorbei und unter zerknickten Brücken hindurch, von denen Waggons wie Girlanden ins Wasser der Hafenbecken hingen, aus denen der Bug einer Schute emportauchte, erschrocken über die plumpen Körper von Oberländerkähnen, die leblos auf der Seite trieben. An den Rändern des Passes lagen längliche Bündel, und man sagte, es wären Leichen. Alle so still, und viel lauter glaubte man den Todesschrei der Autos gellen zu hören, die, gelbausgeglüht und in letzter Not sich erbarmungswürdig aufbäumend, den vergeblichen Fluchtweg bezeichneten.

Und nirgends Querstraßen, um in das seitliche Dickicht zu gelangen; alles ineinander verfilzt. Nur selten ein Blick frei durch eine schwarze Fensterwölbung. Und darüber statt der Grabschriften unverständliche Reklametafeln. Plötzlich zog man den Kopf ein, weil eine sechsstöckige Fassade sich über die Straße neigte und durch die Erschütterung des Wagens zu fallen drohte. War man vorbei und wandte sich um, sah man ganz oben einen Balkon hängen und darüber eine aufgespannte Markise und sogar einen Balkonkasten mit roten Geranien. Doch alles ganz schweigsam, ohne Bewegung und Veränderung; des Zeitlichen entkleidet und ewig geworden.

Wir werden uns von nun an nicht mehr fragen können: Hält es stand, dein Werk, angesichts des weiten Landes und am Ufer des Meeres? Wir werden fragen müssen: Hält es stand angesichts dieses Friedhofes?

Wie waren wir hochmütig und eingebildet auf unseren Geschmack! Was taten wir uns nicht zugute auf unser geistreiches Urteil! Und welch zynischen Ekel maßten wir uns an, die Lebensgewohnheiten der Unzähligen abzulehnen! Haben wir nicht gesprochen: Dies ist ein häßlicher Stadtteil, menschenunwürdig und abbruchreif; die Straße eng und voller Geschrei; die Höfe ohne Licht, ohne Farbe, ohne Luft; die Häuser schmutzig und stumpf? Wie konnten hier Millionen Menschen leben, ohne daß ihr Atem die Enge sprengte! Und auf den Treppen roch es nach Essen und kleinen Leuten; wir rümpften die Nase darüber. Aus den Wohnungen schlug uns der Dunst kochender Wäsche entgegen, und die Stuben waren kalt von ungebrauchten Möbeln. Und das Plüschsofa mit gehäkelten Deckchen? Und all die ungeschickten Fotografien von Hochzeiten und Jubiläen? Und der Buntdruck mit süßlichen Nymphen, der über dem Ehebett hing?

Wer würde es noch wagen, über diese Dinge zu spotten? Warum riecht es nicht mehr auf den Treppen? Warum trocknet keine Wäsche mehr auf dem Gestell vor dem Küchenfenster? Wurde nicht sonntags manchmal ein Kuchen gebacken? War nicht in jeder der unzähligen Wohnungen, deren Umrisse sich jetzt nur an den Mauerresten abzeichneten, eine Hausfrau, die tagaus, tagein die Fußböden scheuerte und die Möbel abstaubte; die den Nachbarn fürchtete und doch von ihm beneidet sein wollte? (...)

Wir gingen wie Tote durch die Welt, die keinen Anteil mehr nehmen an den kleinen Kümmernissen der Lebenden. Man hat die Toten durch Zahlen zu bannen versucht. Gleich in den ersten Tagen sagte man: Vierzigtausend. Aber das kränkte die, die nicht gezählt sein wollten, und man versuchte es mit hundertfünfundzwanzigtausend. Da bekam die Zahl die Oberhand, sie wuchs von Tag zu Tag und stieg bis auf dreihunderttausend. Dann wachten wir eines Morgens auf, und es waren nur noch dreißigtausend. Mit allen Gründen der Logik wurde uns vorgerechnet, daß es nicht mehr sein könnten. Es hatte jemand den Kampf gegen die Toten aufgenommen. Gleichzeitig hörten wir aus allen Teilen des Reiches, daß es mit Hamburg gar nicht so schlimm wäre und daß die Hamburger sich nur so anstellten. Wir waren so erstaunt darüber, daß wir nicht darauf antworten konnten; denn es war noch niemand dazu gekommen, sich zu bemitleiden oder mit seinem Unglück zu prahlen. Doch die Toten wollten sich durch Logik nicht besiegen lassen. Heute schwankt die Zahl wieder zwischen sechzig- und hunderttausend, und man wagt nicht, Einspruch dagegen zu erheben.

Warum versucht man die Toten zu belügen? Warum sagt man nicht: Wir können sie nicht zählen! Das wäre ein einfaches Wort, wie es auch die Toten verstehen würden. Denn es könnte sonst sein, daß sie eines Tages kommen, wenn man ihnen nicht ihr Recht gibt, und sich um das Ehrenmal aus dem Weltkriege versammeln, das stehenblieb wie die Schornsteine der Häuser, als Dreiviertel der Stadt zugrunde ging. Und sie werden diejenigen fragen, für die daran geschrieben steht: „Vierzigtausend Söhne der Stadt ließen ihr Leben für Euch! 1914-1918“. Sie werden die Vierzigtausend fragen: „Eure Eltern, Frauen und Kinder auch, viele und ohne Zahl – sagt uns, ihr Söhne, wofür? In fünfeinhalb Stunden!“ Und dann wird keiner da sein, der eine Antwort weiß. Und statt des nichtsnutzigen Adlers, den eine prahlerische Zeit an das Mal gekritzelt hat, wird die große Rune von Mutter Kummer wieder erscheinen.

Eine Woche später wurden diese Stadtteile ganz abgesperrt. Man zog einen hohen Wall darum: Steine gab es ja genug. An den Eingängen standen bewaffnete Posten. „Was wollen Sie da“, sagte mir einer von ihnen, „es ist kein Vergnügen.“ Man sah Zuchthäusler in gestreiften Anzügen darin arbeiten. Sie sollten die Toten bergen. Man erzählte sich, daß die Leichen, oder wie man die Reste ehemaliger Menschen sonst nennen will, an Ort und Stelle verbrannt oder in den Kellern durch Flammenwerfer vernichtet wurden. Aber in Wirklichkeit war es schlimmer. Sie konnten vor Fliegen nicht in die Keller gelangen, sie glitschten auf dem Boden aus vor fingerlangen Maden, und die Flammen mußten ihnen einen Weg bahnen zu denen, die durch Flammen umgekommen waren.

Ratten und Fliegen beherrschten die Stadt. Frech und fett tummelten sich die Ratten auf den Straßen. Aber noch ekelerregender waren die Fliegen. Große, grünschillernde, wie man sie nie gesehen hatte. Klumpenweise wälzten sie sich auf dem Pflaster, saßen an Mauerresten sich begattend übereinander und wärmten sich müde und satt an den Splittern der Fensterscheiben. Als sie schon nicht mehr fliegen konnten, krochen sie durch die kleinsten Ritzen hinter uns her, besudelten alles, und ihr Rascheln und Brummen war das erste, was wir beim Aufwachen hörten. Dies hörte erst später im Oktober auf.

Und dann der Geruch von verkohltem Hausrat, von Fäulnis und Verwesung, der über der Stadt lag. Und dieser Geruch war sichtbar als ein trockener roter Mörtelstaub, der über alles hinwehte. In uns erwachte plötzlich eine Gier nach Parfüm. (...)

Plötzlich stockten wir, unser Blick war durch das Hinterfenster auf die Katharinenkirche gefallen. Wir sahen uns erschrocken an. „Ja, als sie einstürzte, habe ich geweint“, sagte der Ingenieur, der neben uns stand. Er nannte uns auch die genaue Stunde, in der es geschehen war. Es nützte uns nichts, daß wir uns einredeten: Es ist nur eine Kirche, die hunderttausend Wohnungen und die Menschen, das ist viel schlimmer. Es war wohl ein Symbol. Wir alle, die dort zu tun hatten, liebten den Turm über alle Maßen, jeder auf seine Art, vielleicht ohne es zu wissen. Wir merkten es erst jetzt. Weit über ein Jahrzehnt stand er vor meinem Schreibtisch. Das Blaugrün des barocken Kirchendaches verzauberte das opalisierende Wasser des Fleets. Besonders im Frühjahr und Herbst wurde man dadurch zu Träumereien verführt. Das Wissen um eine alte Orgel und daß diese Kirche als einzige den Brand Hamburgs hundert Jahre früher überlebt hatte, das war gar nicht notwendig.

Nun stand nur noch ein kläglicher Stumpf des Turmes da, verrottet und schwarz angeraucht. Er war genau über der Uhr abgebrochen, der Zeiger wies auf kurz nach Eins; aber mittags oder um Mitternacht? Und an welchem Datum? Über der Uhr sah man noch in goldenen Lettern das Wort: Gloria. Das Kupfer des Kirchendaches hatte sich wie ein Leichentuch nach innen über das Kirchenschiff gelegt. Nur ganz hinten auf einem Mauerrest der Sakristei stand noch der goldene Heilige mit seinem Steuerrad und wies mit dem Finger in die Ferne.

Aber ich entsinne mich nun, daß es mich im Mai dieses Jahres tief verstörte, als zwei große möwenartige Vögel die Kirche lautlos und fast ohne Flügelschlag umkreisten. Sie waren manchmal schwarz und manchmal weiß, und ihre Schatten streiften beängstigend über Häuser und Wasser. Auch die vielen hundert so viel kleineren Möwen, die dort ihr gefräßiges Wesen führen, verstummten, duckten sich und beobachteten die Fremdlinge mit schrägem Kopf. Das war nur an einem einzigen Nachmittag.

Doch man sagt uns ja immer, wir sollten nicht abergläubisch sein. (...)

Der kleine Garten, einst versteckt und vergessen mitten im Stadtzentrum und zwischen hohen Häusern, war grau bereift von Staub. Wir gingen nach hinten durch. Mein Freund redete ohne Unterbrechung. Hier lagen siebenunddreißig Leichen, die dort im Keller verbrannt sind. „Und sehen Sie, da liegt noch ein blutiger Stiefel.“ Es war ein bombensicherer Keller, aber die Türen hatten sich verklemmt. Und weil der Kohlenvorrat daneben lag und brannte, sind sie alle verschmort. Sie waren alle von den heißen Wänden in die Mitte des Kellers geflohen. Da fand man sie zusammengedrängt. Sie waren aufgequollen vor Hitze. – „Und kommen Sie da hinauf!“ Und er half mir auf einen Hügel, der sich dort gebildet hatte. Aus der Wüste, die unter uns lag, ragte nur das Portal des Conventgartens hervor. Im April hatten wir dort die Brandenburgischen Konzerte gehört. Und eine blinde Sängerin hatte gesungen: „Die schwere Leidenszeit beginnt nun abermals.“ Schlicht und sicher stand sie, ans Cembalo gelehnt, und ihre toten Augen blickten über die Nichtigkeiten, um die wir damals schon zitterten, hinweg, vielleicht dahin, wo wir jetzt waren. Und nun umgab uns nur noch ein steinernes Meer.

Nur die Pappel im Garten hatte standgehalten wie eine Damaszenerklinge, und in ihr Laub hatten sich einige Wellensittiche aus den zerbrochenen Käfigen geflüchtet. Überhaupt die Bäume! Mit rührender Eile setzten sie schon nach wenigen Tagen neue Knospen an Stelle der versengten Blätter an und schufen sich einen Frühling, um wieder atmen zu können.

Ja, und auch die drei englischen Standuhren im Hause hatten es überlebt. Als die Wände zu beben begannen, waren sie aufrecht ins Zimmer getorkelt. Aber warum sollen wir uns verwirren lassen, Brüder! Zeigen wir doch weiter die Stunde an, wenn es auch draußen so laut ist. Und eine spielte ihren kleinen Choral mit zarter, kindlicher Eindringlichkeit über den Abgrund hinweg. (...)

Wir haben drei- oder viermal davorgestanden. Am ersten Tage hing noch ganz oben der Heizkörper vom Eßzimmer. Dann war auch dieser Mauerrest herabgestürzt, und ein paar Tage später sprengten sie alles. Es blieb nur ein Haufen Steine, ein viel zu kleiner Haufen. Wir sagten immer nur: Aber das ist doch gar nicht möglich. Wo ist denn der schwere alte Tisch mit der Lindenholzplatte? Und die Truhe? Es müßte doch viel mehr dort liegen. Ja, und ich konnte es doch nicht unterlassen, scharf hinzusehen, ob nicht vielleicht die kleine Madonna zufällig hängengeblieben wäre. Aber wir haben nichts übrig behalten, nicht eine winzige Kleinigkeit von den Dingen, die uns lieb waren und die zu uns gehörten. Wäre es so, wie würden wir dies kleine Etwas streicheln; es trüge das Wesen all der andern Dinge in sich. Und wenn wir weitergingen, ließen wir einen luftleeren Raum hinter uns. Und die Wohnung? Das Eigene? Das ist doch gar nicht möglich. Und plötzlich ist alles wieder da. Man ist bei anderen Leuten, sie haben einen Bücherschrank. Ach ja! Wieviel Bücher hatten wir doch. Oder sie legen eine Schallplatte auf den Apparat. Kennen Sie dies Konzert? Ja, das ist Händel, wir haben es selbst, wir brauchen nur in den Schrank zu greifen. Aber wissen Sie, das Hallelujah spielen wir immer nur Weihnachtsabend, wenn die Krippe aufgestellt ist. Das ist Tradition bei uns. Erst das Hallelujah und dann nach der Bescherung Palestrina. Die Kerzenkrone brennt, auch all die anderen Leuchter. Welcher ist eigentlich der schönste? Der große Altarleuchter oder der kleine aus Zinn? Oder der Louis XVI.-Blaker, der immer etwas an Große Oper erinnerte? Aber du vergißt den weißen Fayenceleuchter ganz. Ach, die Fayencen! Viele hundert Jahre haben sie überstanden. Sie kamen aus Rouen, aus Delft, aus Süddeutschland. Wie oft ist Krieg gewesen seitdem, und sie sind nicht zerbochen. Und nun?

Oder es ist nur ein Knopf anzunähen. Oder eine Rolle Nähseide wird gebraucht. Es liegt ja alles in dem Spieltisch, der vor der Récamière steht. Nach dem Krieg übrigens werden wir sie gleich neu beziehen lassen. Es wird sich schon ein alter Stoff finden, der dazu paßt.

Wir hatten das auch, wir hatten, wir hatten. Nicht um zu prahlen, nein, es drängt sich aus dem Munde heraus, es will geschildert sein, es will nicht sterben. Es liegt nicht unter den Trümmern.

Aber es sind doch nur Dinge! Denken Sie, es wären Ihnen Kinder umgekommen oder Ihre Frau. Ja, das ist wahr, sagen wir, und es nützt nichts. Haben wir falsch mit den Dingen gelebt oder nur anders? Wer kann das entscheiden? Wir haben sie eigentlich nie besessen. In faden Büchern liest man immer wieder die Dummheit, daß die Frauen besessen sein wollten, dann wären sie glücklich.

All die Dinge, die uns umgaben, waren nur zu Gast bei uns. Wir achteten ihr Eigenleben, das älter war als das unsrige. Manchmal hatten wir ein schlechtes Gewissen, weil wir ihnen nicht das bieten konnten, was sie gewohnt waren. Ein Schloß oder festliche Räume. Gehörten die Missalien nicht in eine Kirche? Ja, wir wollen auch dafür sorgen, daß ihr nach unserem Tode dorthin heimkehrt. Nur inzwischen – es ist so unsicher draußen – bleibt bei uns und tut wie zu Hause. Wir lassen euch jede Freiheit, wir fühlen uns verantwortlich für euch; wir werden unsere Stimmen dämpfen und uns euch anpassen.

Oder waren wir bei ihnen zu Gast? Und sie gingen schonend mit uns um, übersahen unsere gröberen Gewohnheiten und vermieden es höflich, uns den Standesunterschied fühlen zu lassen?

Wäre es wirklich ihr Glück gewesen, wenn wir ihre Persönlichkeit durch die Macht unseres Besitzwillens übertäubt und sie dadurch der Gefahr des Eigenlebens beraubt hätten? Nein, nur – wir hätten es jetzt leichter. Denn verlorener Besitz läßt sich ersetzen; aber – ein Gast, ein Freund? Wehe, wenn man es versucht. Wir könnten uns einen Spiegel kaufen. Vielleicht würde ein Kenner sagen: Der Spiegel ist wertvoller als alle sechs Spiegel zusammen, die ihr hattet. Und es bliebe doch nur ein gekaufter Ersatz. Wie könnten wir euch, die wir lieben, darüber vergessen? Wir ließen euch jede Freiheit, auch jene, von uns zu gehen, wann ihr wolltet. Und ihr seid gegangen. Wir aber sind noch da. Vergeßt uns nicht.

Oder war es doch falsch, so zu leben? Haben wir die Dinge mißbraucht, um uns hinter ihnen vor den Unbilden der Wirklichkeit zu verbergen? Sie aber gingen, uns verteidigend, zugrunde, und wir stehen nun nackt und ohne täuschende Zuflucht da? Auch diese Frage muß gestellt werden. Man muß bekennen oder vergessen, ein Drittes gibt es nicht.

Aus: Hans Erich Nossack: „Der Untergang. Hamburg 1943.“ Fotos von Erich Andres, Ernst Kabel Verlag, Hamburg 1993, 143 Seiten, 36 DM.

Copyright des Textes: Suhrkamp Verlag 1963.

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