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Eine Lawine von Problemen ist ins Rollen geraten

■ Jochen Meurers von der Lobby für Wohnsitzlose und Arme in Frankfurt/Main

Intertaz: Es gibt in den letzten Jahren das Phänomen der ausländischen Obdachlosen, das von der Öffentlichkeit bis jetzt noch nicht wahrgenommen wurde. Welche Gründe gibt es hierfür?

Jochen Meurers: Es ist deshalb nicht erkannt worden, weil es kein Problem ist, das massenmäßig auftritt. Das Problem der ausländischen Obdachlosen ist relativ neu; noch gibt es wenig ausländische Obdachlose. Doch wichtig ist, daß man in den letzten zwei Jahren beobachten kann, daß die Zahl der Ausländer unter den Obdachlosen immer weiter zunimmt, im Verhältnis zu den Einwandererzahlen.

Unter den ausländischen Obdachlosen gibt es vor allem italienische, exjugoslawische und spanische Obdachlose. Mit dem Anpassen an die auch negativen Strukturen eines Industriestaates wie Deutschland sind auch die familiären Strukturen der Einwandererfamilien auseinandergebrochen, und damit passiert bei den ausländischen Bürgern genau das gleiche wie den deutschen Bürgern: Sie fallen in soziale Deklassierungsprozesse durch Langzeitarbeitslosigkeit, durch Verelendung materieller und psychischer Art und landen dann genauso schnell auf der Straße wie andere Bürger auch. Insofern hat man keinen Unterschied zwischen Ausländern und Deutschen. Es ist in Zukunft damit zu rechnen, daß mit zunehmender Armut der ausländischen Mitbürger das Phänomen der Obdachlosigkeit auch bei dieser Gruppe ein ernstzunehmendes Problem werden wird. Man rechnet jetzt mit den ersten Rentnern aus der ersten Einwanderergeneration, die merken, daß 25 Jahre Arbeit in Deutschland sich in ihrer Rente nicht sehr stark niederschlägt. Und hier beginnt so etwas wie „Ausländerarmut“ vor allem in den Ballungszentren.

Wie ist das Verhältnis von ausländischen und deutschen Obdachlosen untereinander?

Das Verhältnis von ausländischen und deutschen Obdachlosen ist mindestens genauso gespannt wie in anderen Bereichen der Gesellschaft, oft sind hier die Vorurteile gegen Ausländer sogar noch stärker. Das liegt daran, daß der Konkurrenzkampf, der ja allgemein zwischen Deutschen und AusländerInnen auf dem Arbeitsmarkt vorhanden ist, um so intensiver auftritt, je größer die Not ist. Es ist bekannt, daß auf dem grauen Arbeitsmarkt AusländerInnen eher bereit sind, für einen weit geringeren Lohn zu arbeiten als Deutsche. Insofern gibt es hier für Vorbehalte und Vorurteile handfeste Gründe. Auf der anderen Seite ist auch hier dasselbe Phänomen zu beobachten wie in anderen Bereichen der Gesellschaft: Sobald einzelne einander näherkommen, sobald sie sich im Alltag gemeinsam demselben Schicksal ausgeliefert sehen, verschwinden die Vorurteile. Da geht es dann nur noch darum, ob sie als Menschen miteinander auskommen, als Obdachlose, die ihren Alltag nach bestimmten Spielregeln gemeinsam organisieren müssen.

Neben den älteren Migranten gibt es auch unter den ausländischen Jugendlichen viele, die ohne Wohnsitz sind.

Das ist eine allgemeine Entwicklung. Es hat etwas mit der Verjüngung der Obdachlosen zu tun, die auch bei den Deutschen zu beobachten ist. Sieht man von der allgemein mißlichen Lage des Arbeitsmarktes ab, sind bei ausländischen Jugendlichen Probleme hinzuzuziehen, die sich aus ihrem kulturellen Zwitterdasein ergeben. Diese Probleme schaffen psychologische Konflikte, die immer mehr Jugendliche in die Obdachlosigkeit treiben. Das sind Erscheinungen, mit denen sich kaum jemand beschäftigt. Wenn aber hier keine Vorbeugemaßnahmen getroffen werden, kann man sicher sein, daß wir auch hier in allernächster Zukunft von einer Lawine von Problemen überrollt werden. Was wir heute sehen, ist nur die „Spitze eines Eisbergs“. Das Gespräch führten

Hakan Songur und Franco Foraci

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