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Parzivals Rebirthing

Texterzeugungsmaschine Parzival: Adolf Muschgs Roman und Peter Knechts neue Übersetzung  ■ Von Holger Noltze

I.

Wissen wir schon: Ein Text ist eine Maschine zur Hervorbringung von Texten. Und am Ende laufen alle Geschichten auf eine hinaus, die „Eine“. Am Schnittpunkt dieser beider Erkenntnislinien ortet der überschauende Blick des Literaturhistorikers den „Parzival“ des Herrn Wolfram von Eschenbach, geschrieben 1200 bis 1210, seinerseits nachgeschrieben dem „Conte du Graal“ des französischen Kollegen Chrétien de Troyes. Die deutsche Literatur kennt keine bessere Text-Maschine zur Erzeugung neuer Texte, die dann wieder neue Texte hervorbringen. Wolfram ist vertrackt, ausreichend rätselhaft, „dunkel“. Er erzählt die Geschichte, die alle Geschichten erzählt, die von Mann und Frau und Welt und Heil, vom Suchen und Gefundenwerden.

Der „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach ist ein Einzelstück, der einzige deutsche Gralsroman von Rang, ohne nennenswerte Nachfolge. Wolframs Gralsgeschichte, in seinem Jahrhundert gut überliefert, wurde vergessen und begraben, als das Mittelalter aus der Mode kam. Der „Parzival“ erstand als Nationalepos im 19. Jahrhundert wieder auf, als Heiligtum und Lieblingskorpus der Gründerzeit-Germanistik, mit Weihrauch vernebelt und zum Bühnenweihfestspiel umfunktioniert von Richard Wagner (Wagner über Wolfram: „durchaus unreife Erscheinung“). Inzwischen liegt er seziert und präpariert und keimfrei gebannt auf den Objektträgern der modernen Philologie. Veropert, verfilmt, verdorben durch langweilige, gereimte und völlig ungereimte Übersetzungen, war einer der besten deutschen Romane eine Sache für eine Sekte namens Altgermanistik geworden. Bis dann 1986 Dieter Kühn, der Vielschreib-Fex vom Niederrhein, den Parzival zum Herzstück seiner Mittelalter-Trilogie machte und damit verkäuflich. An ein grandios leichtfertig drauflosfabulierendes Stück Wolfram-Biographie (weil ein richtiges Publikum doch auch einen Autor braucht, unter dem man sich was vorstellen kann) hängte Kühn eine unerhörte Übersetzung. So einen witzigen, charmant höfisch plaudernden Parzival-Ton hatte man in der Tat noch nicht gehört. Ein später Sieg der Texthervorbringungsmaschine Parzival. Die Germanisten erschreckten sich. Wahrscheinlich erschreckte sich auch Adolf Muschg. Der steckte damals nämlich gerade mitten in der Arbeit zu seinem opus magnum in gleicher Sache. Jetzt ist es heraus, und während Kühn mutig den Parzival des Wolfram von Eschenbach annonciert hatte, legt Muschg eine Geschichte von Parzival vor.

II.

Es ist eine Geschichte von Muschg geworden. Nicht er habe die Geschichte, diese habe ihn gefunden. Sie muß ihn verfolgt haben, seit er im Proseminar eine Arbeit über Rot-Weiß als Minnesymbol bei Wolfram geschrieben hat. Muschgs Tausend-Seiten-Parzival folgt staunenswert und en détail dem Original-Parzival. Die Anverwandlung stimmt gerade in der Klitzekleinigkeit; im großen ganzen geht's drunter und drüber, daß Gralsgläubigen die Haare zu Berge stehen werden: Der Gral löst sich nämlich, nach viel Versagung und Verirrung gewonnen, einfach in Luft auf. Am Ende dieser Geschichte von Parzival steht nicht die Vision einer weltweiten, orientalisch-okzidentalischen Gralsherrschaft, sondern privates Familienglück eines abgedankten Gralspräsidenten: „Das Paar saß am Rand der Glut und hatte sich beider Mäntel um die Schultern geschlagen; allmählich sank der Kopf der Frau an die Schulter des Mannes, ihr Atem ging so ruhig.“ Wolframs dinc namens grÛl, erden wunsches überwal, Stein oder Kelch, jedenfalls das wie auch immer Größte auf der Welt: bei Muschg erscheint er „überholt“, ein Traumziel für Dümmlinge, ein schwarzes Loch Nichts, um das eine kranke Gesellschaft Gnadenloser fried- und freudlos vegetiert, wartend auf – Erlösung?

III.

Muschg weiß mehr als Wolfram, Wolframs Publikum und mehr als wir, und er tut nicht so, als wenn das nicht so wäre. Muschg hat alles Wichtige gelesen, was es neben dem Parzival damals zu lesen gab, den Skandalautor Gottfried von Straßburg, den braven Hartmann von Aue, auch den gezügelten Klassiker Heinrich von Veldeke, und er läßt seine Helden zur Mußestunde bedenkenlos in den superteuren Handschriften blättern, auch Lesen gehört zum Heldentum. Muschg weiß auch, was seine Figuren nicht wissen, und allzuoft weiß er alles und deshalb zuviel. Besonders die Frauen feinzeichnet er mit einem Hang zur psychologischen Totalexplikation. Parzival, ein Opfer mütterlicher Projektionen und over-protection. „Erwählt, auserkoren, zum Höchsten bestimmt. Wer hat das gesagt? Woher der Wahn? Mutter, was war das für ein Glaube, der dir gebot, mir so etwas anzutun?“ Parzivals Gralssuche – eine Vater-Mutter- Kindheitssuche, rebirthing. Kundry, den Namen der häßlichen Gralsbotin, nimmt Muschg gleich noch mal als familiäres Kürzel für die schöne Parzivalgattin Condwir amurs. Das ist rätselhaft und wieder nicht, denn für Parzival (und alle geschulten Psychologen/Leser) verschränkt sich das ganze Suchen nach Mutter, Frau und Gral in eins. Hier spricht das Unterbewußtsein, und man tut gut daran, die Ohren zu spitzen für derlei. Langsam lesen ist die Spielregel, und in allem Chaos die fraktalen Lebensmuster trotzdem nicht übersehen. Als buntes Pasticcio oder Artus-Reißer aus den Nebeln von Avalon funktioniert das Buch nicht. Überhaupt, Artus.

IV.

Für Muschgs ideologiekritisches Programm ist die Herrlichkeit des Rittermachers König Artus genauso démodée wie die des schalen Grals. Die Tjosthelden von einst liefern sich sinnlose Kämpfe an der Rampe, während im Hintergrund schon militärisches High-Tech in Stellung geht, die Fernwaffe Armbrust, die chemische Waffe Phosphor, Maschinen für Materialschlachten. Der noch schlimmere Feind des Rittertums ist Lähelin. Mit Lähelin beginnt, was nicht aufzuhalten ist und die literarische Abenteuerei der Tafelrunde zum allenfalls letzten Schrei erklärt: Kapitalismus, Geldwirtschaft, Vernunft.

Was Muschg (frei von Wolframs Vorlage, wo Lähelin ein Parzival- Feind in den Kulissen bleibt) mit dieser und anderen Nebenfiguren macht, ist raffiniert, anrührend, witzig erzählt: das Nicht-Zueinanderfinden Parzivals und seiner ersten Liebe Liaze, wie Gurnemanz, der würdige, traurige Lehrer in Rittertum, sich am Ritterfeierabend traurig und würdig betrinkt. Condwir amurs' schrullige Onkels Kyot (der Sterngucker) und Manpfilyot (der Pragmatiker), Ezzelin, der Narr am Gral, das tragisch-höfische Kinderliebespaar Sigune und Schionatulander, viele andere (aus Wolframs Personal tauchen immerhin rund 120 Figuren wieder auf) hat Muschg aus winzigen Motiven weiterentwickelt. Hat ein neunmalkluges Zwillingspaar und drei auktoriale Eier zugegeben und mit Anachronismen vorsichtig gewürzt. Hat aus dem religiösen Unterweiser und Grals-Ratgeber Trevrizent einen Zenmeister und Therapeuten gemacht, aus Parzival einen „Gestörten“. Parzivals erster Besuch beim Gral, die perverse Prozession mit blutender Lanze, gelingt Muschg grausig- großartig, dagegen sind Gawans (der zweiten Hauptfigur) amouröse Aventüren von gediegener Langeweile. Die Eine Geschichte, ein dickes Buch, hochreflektiert, bisweilen spannend, manchmal länglich ausgesponnen. Soll man es lesen? Ja. Vorher aber noch eins.

V.

Wolfram original ist eine Mühe und ein Vergnügen für Fortgeschrittene der Altgermanistik. Wolfram übersetzt liest sich bieder (Stapel, 1937), unsäglich gereimt (Mohr, 1977), nüchtern-geschwätzig (Spiewok, 1977), verplaudert (Kühn, s.o.), gut, aber englisch (Hatto, 1980). Es gibt etliche Übersetzungen mehr, aber bislang gab es keine wie die neueste, fast zeitgleich mit Muschgs Roman erschienene von Peter Knecht. Die ist: krump, und will auch gar nicht anders sein. Trotzig hat Knecht seinem (offenbar verzweifelnden) Lektor einen Brief geschrieben, möglicherweise verzweifelnden Lesern zum Trost im Anhang beigegeben. Er wolle die Verschrobenheiten und Irritationen des Originals nicht wegübersetzen, gehe es doch eben darum, die Vorstellungen Wolframs, verschroben und irritierend, dem heutigen Leser nicht zu ersparen. Wenn etwa einer im Zweikampf umkommt, heißt es also verschroben

Fortsetzung auf Seite 16

Fortsetzung von Seite 15

genau: da „log jene Tjost nicht, die ihm vom Sterben sprach“. So steht es halt da. Weil es ihm um gute Vorstellbarkeit geht, dichtet Knecht seinen Wolfram im Zweifelsfall auch weiter, bringt Tiere ins Spiel (Tiere sind immer gut: aus kiusche wird „keusch wie ein Lamm“, aus gelust „Falkengier“), und wenn ihm, wo Wolfram den ,Maienkönig‘ Artus mild verspottet, Goethe und Heine in den Sinn kommen, kommen sie auch in den Text, „Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen, im wunderschönen Monat Mai ...“ Warum nicht, man muß es nur wissen. Andererseits legt Knecht auch falsche Fährten, verdunkelt den dunklen Wolfram auch da, wo er für sein Publikum durchaus nicht dunkel war. So hat er die unselige Vorliebe, lîp, das mittelhochdeutsch regelmäßig nicht nur den Körper, auch die ganze Person meint, genau so und deshalb nicht nur krump, sondern schräg stehenzulassen: einer „verliert den Leib“, jemand hat einen andern „lieber als seinen eigenen Leib“, „traurig macht es meinen Leib“, nämlich den des Erzählers, und „ritterliche Sitten hatte er jetzt am Leib“, nämlich Parzival. In den ersten zwei Büchern klappert das noch sehr, dann gewöhnt sich das innere Ohr an derart naturbelassene Klänge, und indem die Geschichte dann an Fahrt gewinnt, findet das Ganze auch seinen Rhythmus. In manchem Detail trifft der Franke Knecht den Franken Wolfram beinah genial: „la reine de France [die Königin von Frankreich nämlich verfolgt Parzivals Vater Gahmuret mit amourösen Anträgen] schanzt dir in edler Liebe gute Augen zu“, so frech passend hat noch keiner Würfel- und Liebesspiel zusammengeworfen. Und so weiter.

VI.

Wolframs ungezügeltem Reden von Parzival ist neuhochdeutsch derzeit wohl nicht besser nachzuspüren als in Knechts pfiffiger Übersetzung. Ein bißchen überpfiffig schlägt er die gelehrte Forschung in den Wind; wer mehr wissen will, muß auf die kommentierte Edition nebst Kühnscher (komplettierter) Übersetzung im Klassiker Verlag warten. Muschgs „Geschichte von ParzivÛl“ instrumentiert den 800 Jahre alten Text für ein Symphonieorchester, Knechts Übersetzung kratzt im Originalklang. Man lese das eine im andern. Wie das Stück ausgeht, wissen wir eh schon.

Adolf Muschg: „Der Rote Ritter. Eine Geschichte von ParzivÛl“. Suhrkamp Verlag, 1.006 S., geb., 54 DM

Wolfram von Eschenbach: „Parzival“. Aus dem Mittelhochdeutschen von Peter Knecht. Eichborn Verlag, 473 S., geb., 44 DM

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