Schriften zu Zeitschriften: Tanz den Merleau-Ponty!
■ Von der Situiertheit des Wissens, oder: Warum Computer nicht denken und Mädchen schlecht werfen können
Sobald die Rede darauf kommt, was sich seit der Einführung des Computers an unserem Wirklichkeitsbezug, ja an unserem Begriff von Wirklichkeit überhaupt verändert hat, drängen sich mit Macht Metaphern der Simulation, der Distanzierung, des Realitätsverlusts auf. Das ist allerdings eine einseitige Perspektive: Es könnte nämlich sein, daß die Digitalisierung uns am Ende im gleichen Maße auf uns selber zurückwirft, wie sie uns von den Dingen entfernt. Hubert L.Dreyfus, Philosoph in Berkeley, hat wie kein anderer den Nimbus der KI („Künstliche Intelligenz“) zerstört; folgt man seinen Überlegungen im jüngsten Heft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, so lassen die letzten Resultate der Computerforschung einen Schluß zu, der der populären Utopie einer intelligenten Maschine Hohn spricht: Intelligenz, so Dreyfus' Fazit nach seinem Rundgang durch die Labore, braucht einen Körper.
Beim Versuch, Computer auf so etwas wie Sensibilität für Räume und Situationen zu programmieren, zeigte sich ein gravierender Unterschied von künstlicher und natürlicher Intelligenz: Menschen kommen besser mit Situationen zurecht, je mehr Aspekte sie unterscheiden lernen; für die Computer hingegen wird der Zugriff auf jeweils relevante Informationen bei größerem Input immer schwerer. Dreyfus' Tour durch die Science- fiction-Szenarios der KI-Forscher hat eine überraschende Pointe: Intuition, das seltsame Vermögen auf der Schwelle zwischen Körper und Geist, ist keine Vorstufe klarer Erkenntnis, sondern selber eine Form des Wissens, eine Art von Informationsverarbeitung, deren Ökonomie noch ganz im dunkeln liegt.
Wenn die immer noch beklagenswerte Dummheit der Computer also lehrt, daß Intelligenz einen Körper braucht, um sich zu entwickeln, dann stellt sich natürlich die Frage, welchen Körper. Denn man darf ja annehmen, daß zwischen dem Stil des körperlichen Verhaltens und dem Denkstil viel subtilere Verbindungen bestehen als die philosophische Tradition sich vorzustellen wagte. Iris Marion Young, eine Merleau-Ponty- Schülerin, die in Pittsburgh Philosophie lehrt, glaubt, „daß der allgemeine Mangel an Selbstvertrauen, den wir [Frauen] oft in bezug auf unsere geistigen und Führungsqualitäten haben, sich teilweise auf unsere Zweifel an unseren körperlichen Fähigkeiten zurückführen läßt.“ Sie hat sich von der Beobachtung, daß Mädchen einen anderen Wurfstil haben, zu einer „Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit“ anregen lassen: Mädchen nutzen beim Werfen den lateralen (seitlichen) Raum nicht, strecken den Arm nicht seitwärts aus, drehen den Rumpf nicht, bewegen ihre Beine nicht. Das Resultat ist den meisten aus verschiedenen Schneeballschlachten bekannt: „Der Ball fliegt ohne Kraft, Geschwindigkeit und exakte Zielgebung los.“ Young überträgt ihre Beobachtungen vom Werfen auf andere sportliche Betätigungen: „Es gibt nicht nur einen typisch weiblichen Wurfstil, sondern auch einen mehr oder weniger typisch weiblichen Laufstil, Kletterstil, Schaukelstil, Schlagstil. Viele Frauen verhalten sich beim Sport so, als umgebe sie ein imaginärer Raum, über den sie sich nicht hinausbewegen können. Der Raum, der unserer Bewegung zur Verfügung steht, ist ein begrenzter Raum.“ Sie zeigt, daß dieser weibliche Raum ein Produkt der „sexistischen Gesellschaft“ ist; Mädchen werden durch eine Erziehung zur Verletzlichkeit in diese hemmende Raumhülle eingewickelt. Youngs Phänomenologie der körperlichen Versteinerungen ist brillant; sie ist aber bereits ein wenig angestaubt, wie jede weiß, die in der letzten Zeit eine Disco von innen gesehen hat. Will die Philosophie die versteinerten Körperverhältnisse zum Tanzen bringen, so muß endlich eine Philosophie des Tanzes her. Denn im Tanz werden seit je die Barrieren überschritten, die der Körperexistenz anerzogen sind.
Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie, ehemals ein langweiliges Verlautbarungsorgan der östlichen Katheder, ist auf dem besten Wege, der Konkurrenz im Westen den Rang abzulaufen. Das neue Heft bietet noch zwei äußerst lesenswerte Texte: einen summarischen Essay von Agnes Heller über den „Tod des Subjekts“ – für Heller der Garant dafür, daß es in der Philosophie weitergeht wie eh und je; und eine brillante Habermas-Kritik des Humboldt-Spezialisten Jürgen Trabant. Trabant arbeitet anhand von Habermas' Humboldt-Lektüre heraus, was auch den Freunden der Habermasschen Theorie schon lange sauer an ihr aufstößt: die Vernachlässigung der „welterschließenden“ – poetischen – Funktion der Sprache zu Gunsten der „problemlösenden“ – pragmatischen – Funktion: „Die Literatur ,verwaltet‘ (ein schönes bürokratisches Wort, das Habermas liebt) die Funktion der Welterschließung. Wissenschaft, Moral und Recht ,verwalten‘ die Funktion der Problemlösung.“ Trabant zeigt, daß sich die klare Trennung der Diskurse jedenfalls nicht von Humboldts Sprachtheorie herleiten läßt, derzufolge Sprache in allen Diskursen welterzeugend, welterschließend funktioniert.
Peinlich für ein so gelungenes Heft: die miserablen Kurzrezensionen am Ende. Dem Benjamin-Buch von Hermann Schweppenhäuser, der dem Beirat der Zeitschrift angehört, wird hier bescheinigt, daß es „die philosophischen Fragestellungen jederzeit auf dem angemessenen Komplexitätsniveau verhandelt“. Setzen, Herr Professor! Befriedigend! Jörg Lau
Deutsche Zeitschrift für Philosophie , Jg. 41 (1993), Heft 4. Bezug: VCH, Postfach 101161, 69451 Weinheim
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