: Hoffnung, aber auch Angst vor Isolation
■ Bei vielen Einwohnern von Jericho und Umgebung herrscht seit der Aussicht auf Selbstverwaltung verhaltener Optimismus. Ein Schritt nach vorn, sagen viele, aber eben auch ein Sprung ins Ungewisse.
Hoffnung, aber auch Angst vor Isolation
„Das Ganze ist so, als wenn dich jemand zum Kaffeetrinken einlädt, dir aber keine Uhrzeit und keinen Ort nennt“, sagt Dschamil Khalaf. Im kleinen Büro des Bürgermeisters von Jericho drängen sich Journalisten aus aller Welt. Von ihm erhoffen sie sich mehr über die Details des Abkommens, wonach sich die israelische Armee als erste Etappe einer Gesamtlösung aus Jericho und dem Gaza-Streifen zurückziehen soll. Die verschlafene Oase im Jordantal, nur sieben Kilometer von der jordanischen Grenze entfernt, an der bislang das politische Geschehen vorbeigegangen zu sein scheint, ist plötzlich zum Leben erwacht. Wann kommt Arafat? Wird Jericho dann palästinensische Hauptstadt?
Aber auch Dschamil Khalaf weiß von allem nur aus der Presse. „Wir müssen abwarten. Wir wissen auch nichts. Niemand hat uns kontaktiert. Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt, weder die PLO noch die israelische Ziviladministration“, sagt er. Die Wände hinter dem Schreibtisch zieren Fotos: der Bürgermeister mit den Notablen des Ortes, der Bürgermeisters mit israelischen Offizieren, der Bürgermeister mit dem israelischen Ministerpräsidenten Rabin. Nachdem sein Vorgänger aus Protest gegen die Besatzungspolitik zu Beginn der Intifada, des Aufstands der Palästinenser in den besetzten Gebieten, zurücktrat, wurde er von der Besatzungsbehörde eingesetzt.
„Das Abkommen ist ein guter Schritt nach vorne“, sagt Khalaf. Aber es ist für alle zugleich auch ein Sprung ins Ungewisse. Den Bürgermeister quälen viele Fragen: Wer wird morgen die Identitätskarten ausstellen, Geburten und Todesfälle registrieren? Brauchen wir in Zukunft etwa auch Passierscheine, wenn wir nach Ramallah, Nablus oder Betlehem, den anderen Städten des von Israel besetzten Westufers, fahren wollen? Schon jetzt dürfen wir nur mit einer Sondergenehmigung nach Jerusalem fahren. Was passiert, wenn mein Kind mitten in der Nacht krank wird und ich ins Krankenhaus nach Ramallah muß?
Die Händler und Kaffeehausbesitzer um den kleinen Marktplatz von Jericho sind optimistisch. Sie hoffen, daß die Touristen wiederkommen, die seit der Intifada weggeblieben sind. Der Tourismus ist neben der Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle der Stadt. 70 Prozent aller Bewohner Jerichos sind laut Meinungsumfrage für den Teilrückzug der israelischen Armee aus Jericho und Gaza. Aber ihr Optimismus ist verhalten. Viele befürchten, daß Jericho durch das Abkommen vom Rest der Westbank isoliert wird und auch daß der jordanische König Hussein aus Ärger über die palästinensischen Alleingänge die Brücken über den Jordan für die Bewohner Jerichos schließen könnte.
„Wir haben doch nicht die ganzen Jahre nur für Jericho gekämpft“, sagt ein Jugendlicher, der sich mit einer Gruppe von Freunden vor einem der Lebensmittelläden niedergelassen hat und türkischen Mokka schlürft. Ein Mann um die Vierzig versucht ihn umzustimmen. „Es wird viel Wirtschaftshilfe fließen. Außerdem ist das Jordantal fast unbewohnt. Es gibt viel Platz, Flüchtlinge, die zurückkehren wollen, anzusiedeln.“ So weit man gehört hat, sollen die Palästinenser, die während des Sechs-Tage-Krieges 1967 aus der Westbank geflohen sind, etappenweise zurückkehren dürfen: die Israelis sprechen von 100.000, die Palästinenser von der achtfachen Zahl.
Der alte Ful- und Falafel-Händler von nebenan mischt sich ein. Er ist mit seiner Familie 1948 nach Jericho geflohen: „Das ist doch keine Lösung. Ein solcher Frieden kann nicht dauern. Du wirst sehen. Es wird in ein paar Jahren wieder Krieg geben.“ Abdel Sidr Nadhif ist Mitglied des politischen Komitees des Ortes. Diese Komitees wurden nach Beginn der Friedensgespräche in der spanischen Hauptstadt Madrid im Herbst 1991 von Arafats Al-Fatah in allen Orten der besetzten Gebiete gegründet als Scharnier zwischen der Auslandsführung und der Bevölkerung in den besetzten Gebieten. „Du wirst sehen“, sagt er zu dem Alten, „in zwei Monaten ist Abu Ammar (Arafat, I.L.) hier und wird von hier aus die ganze Westbank beherrschen.“ – „Die ganze Westbank?“ – „Ja, natürlich, er hat ja schon von Tunis aus die besetzten Gebiete regiert.“
Ein junger Mann in Jeans und weißem Hemd betritt den Laden. „Der ist gerade von einem Polizeitraining aus Jordanien wiedergekommen“, erzählt Abdel Sidr. „Wir haben schon angefangen mit den Vorbereitungen zum Aufbau einer palästinensischen Polizei.“ Die Polizei wird wohl eher ein Aushängeschild sein, denn die PLO will 5.000 Mitglieder der Befreiungsarmee in den besetzten Gebieten stationieren.
Wo wird Arafat wohnen? Das ist zur Zeit der Hauptgesprächsstoff in Jericho. Wird er in den Winterpalast einziehen, der eher an eine Dorfschule erinnert und wohin es früher den jordanischen König Abdallah auf der Flucht vor den Winterfrösten in den Bergen Ammans zog? Oder etwa in die Alami-Villa, die mitten in den Orangenhainen am Ortseingang liegt und zur Zeit von einem Verwandten Feisal Husseinis, des Leiters der Friedensdelegation, renoviert wird – auf PLO-Kosten, munkelt man. Vor ein paar Tagen kamen etwa hundert israelische Siedler und hißten aus Protest gegen die Vorstellung, daß dieses Gebäude einmal palästinensischer Regierungssitz sein könnte, auf dem Dach die israelische Flagge, bis sie von den eigenen Soldaten vertrieben wurden. Oder wird er in der Villa der Familie Kurdia wohnen, für die die politischen Komitees 800.000 Dollar geboten haben? Die vier Kurdia-Brüder, Geschäftsleute aus Jerusalem, sind sich noch nicht einig, ob sie ihr Wochenendhaus verkaufen sollen oder nicht. Keiner weiß, ob nicht die Grundstückspreise, die seit den ersten Nachrichten über die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen an die Öffentlichkeit gelangten, schon um mehr als hundert Prozent gestiegen sind.
Die meisten der etwa 16.000 Bewohner Jerichos stammen nicht von hier. Sie kamen während des ersten Nahost-Krieges 1948 aus den Gebieten, die heute zum Territorium Israels gehören – auch wenn die meisten von ihnen seit langem die Flüchtlingslager verlassen und sich Häuser in Jericho gekauft haben. Trotzdem gibt es am Stadtrand von Jericho noch zwei Flüchtlingslager. Am Ortseingang liegt Akabat Jaber, ein trostloser Flecken. Ein paar Neubauten und unzählige kleine Lehmhütten scheinen wahllos über den felsigen Boden verstreut zu sein, viele davon sind halb verfallen. Früher einmal lebten hier 63.000 Menschen. Die meisten flohen während des Sechstagekrieges über den Jordan nach Jordanien – aus Angst, daß sich die Massaker von 1948 wiederholen könnten. Einige schwammen nach Ende der Kampfhandlungen nachts heimlich über den Grenzfluß Jordan wieder zurück.
Adnan Abu Zeid ist stellvertretender Direktor der Al-Bir-Gesellschaft für Berufsbildung, in der vor allem Waisen und Kinder der palästinensischen Märtyrer ausgebildet werden. „Vor 1967 war Akabat Jaber eines der Zentren des palästinensischen Widerstandes“, erinnert er sich. „Nach 1967 blieben hier noch 100 bis 150 Familien. Heute leben hier wieder 4.500 Menschen.“ Die Jericho-Gaza-Lösung befürwortet er, unter der Bedingung, daß es wirklich nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat ist. „Die Flüchtlinge haben am meisten von allen gelitten. Sie haben nichts mehr als ihre Ehre zu verteidigen. Die palästinensische Präsenz wird ihnen hoffentlich ein wenig Selbstrespekt verleihen.“
Adnan Abu Zeid hofft, daß die Alltagsschikanen der Besatzung nun ein Ende haben werden: Straßenkontrollen, die ständigen Demütigungen durch israelisches Militär, die nächtlichen Hausdurchsuchungen. „Das Problem ist, daß niemand weiß, wohin das Ganze führen soll. Bisher weiß man ja noch nicht einmal, wo die Grenzen von Jericho verlaufen sollen: Soll nur die Stadt geräumt werden oder auch das Umland? Viele haben Angst, daß der Friedensprozeß hier steckenbleiben wird und daß den Palästinensern dann nur noch ein Kanton bleibt.“
Bei anderen in Akabat Jaber klingt Verbitterung durch. Ein Mann in weißer, bodenlanger Galabiya lädt uns zu Tee mit Pfefferminz zu sich nach Hause ein. Das Haus, in dem er mit Frau und sechs Kindern lebt, ist ein notdürftig reparierter Rohbau noch aus den sechziger Jahren; die Zimmer sind nur durch dünnen Stoff voneinander getrennt. Vor zwei Jahren hat der Winterregen seine Lehmhütte den Abhang hinuntergespült. Wo hätte er sonst hingehen sollen? Geld hat er keines. Er arbeitet als Tagelöhner auf dem Bau. Er gehört der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP) an. Seinen Namen will er lieber nicht nennen. „Ich will Frieden, aber nicht um jeden Preis. Einen Frieden, der meine Rechte als Mensch und als Palästinenser respektiert. Der mir meine Unabhängigkeit garantiert. Der jetzige Frieden löst keines unserer Probleme als Palästinenser: Was wird aus Jerusalem? Wer kontrolliert das Wasser? Auch die Kontrolle der Grenze zwischen uns und Jordanien bleibt in israelischen Händen. Sie können unseren Verwandten verbieten, uns zu besuchen. Die Lösung öffnet den Israelis das Tor nach Ägypten und Jordanien. Uns Palästinensern bringt sie aber gar nichts.“
Er ist verbittert über die PLO- Führung um Jassir Arafat. „Er redet immer über Demokratie, und in einer so wichtigen Entscheidung hat er niemanden um seine Meinung gefragt, weder die anderen Mitgliedsorganisationen noch den Palästinensischen Nationalrat. Nur ein paar Mitglieder des PLO-Exekutivkomitees wußten, was hinter den Kulissen gespielt wird. Selbst die Verhandlungsdelegation hatte von nichts eine Ahnung.“
„Was ist das für eine Demokratie?“ fragen sich auch die Gegner des Gaza-Jericho-Abkommens im anderen Lager. Es ist Freitag nachmittag, die Vorbereitungen des Sabbat, des jüdischen Wochenendes, laufen auf Hochtouren. Yussef Stern entschuldigt sich, als er die Tür öffnet, für die Unordnung im Hause. Seine Frau badet die Kinder, im Ofen brutzelt das Essen für den nächsten Tag, überall liegen frischgewaschene Kleidungsstücke herum, die vor sechs Uhr weggeräumt werden wollen; danach sind in Mitzpa Jericha Tätigkeiten jedweder Art untersagt: Kochen, Waschen, Fernsehen, Autofahren, selbst Telefonieren.
Mitzpa Jericha ist eine Siedlung der extremistischen jüdischen Organisation Gusch Emunim. Hier werden die Sabbatvorschriften streng eingehalten. Die Siedlung, in der 110 Familien leben, liegt, geschützt von mehreren Reihen Stacheldraht, zehn Kilometer von Jericho entfernt auf dem östlichen Bergkamm der judäischen Berge. Für die Gusch Emunim ist die Westbank Teil des den Juden von Gott versprochenen Heiligen Landes. Um diesen Anspruch zu untermauern, bauten sie überall in der Westbank Siedlungen, meist an strategisch wichtigen Punkten. Die Palästinenser hätten zwanzig arabische Länder, in die sie auswandern könnten, wenn es ihnen unter jüdischer Herrschaft nicht gefalle, so die hier allgemein verbreitete Ansicht.
Yussef Stern, der vor elf Jahren aus den USA nach Israel ausgewandert ist, und seine Frau sind hierhergezogen, um die religiöse Atmosphäre mit anderen zu teilen, sagen sie. Alle Männer tragen hier das Kebah, ein kleines Käppi, auf dem Hinterkopf und die meisten eine Pistole im Hosengurt, während die Frauen nach orthodoxer jüdischer Vorschrift ihre Haare unter einer Haube versteckt haben. Außerdem sind die Grundstücke hier billig. Eine Villa wie er sie hier hat, hätte er in Tel Aviv oder Jerusalem niemals sein eigen nennen können, sagt Stern.
Ob Mitzpa Jericha in dem Gebiet liegt, aus dem sich die israelische Armee zurückziehen wird, weiß Yussef Stern nicht. Und wenn die Siedlungen während einer Übergangsphase in israelischer Hand blieben, „was kommt danach? Das ist doch alles Augenwischerei, um uns zu beruhigen. Die Regierung bezieht uns in keinster Weise ein. Sie fragt uns nicht, sie informiert uns nicht, sie tut so, als seien wir nicht existent. Die politische Rechte interessiert ihn nicht, hat Rabin gesagt.“
Yussef Stern hält die gegenwärtigen Verhandlungen für strategischen Wahnsinn. Vom Garten hinter der Synagoge aus kann man das ganze Jordantal überblicken. Rechts unten das Tote Meer, links die Oase von Jericho wie ein grüner Fleck in der sonst so kargen Wüstenlandschaft. Bei klarem Wetter sieht man Nachts die Lichter der jordanischen Hauptstadt Amman, auf der Bergkette jenseits des Tals. Im Hintergrund erkennt man die Türme von Jerusalem. „Durch diese Ebene kam schon Joshua, um Jericho zu erobern. Von hier aus eroberten römische Truppen Palästina, und von hier kamen die jordanischen Panzer. Die Bergkette hier ist ein strategischer Verteidigungswall. Wer diese Berge kontrolliert, kontrolliert auch Jerusalem“, meint Yussef Stern.
Er ist davon überzeugt, daß das Gaza- Jericho-Abkommen der erste Schritt zum palästinensischen Staat ist. Zwar haben viele in Mitzpa Jericha Widerstand angekündigt, sie wollen die Siedlung nicht verlassen, koste es, was es wolle. „Aber was können wir tun? Natürlich werden wir streiken, Demonstrationen organisieren. Aber am Ende werden wir gehen müssen. Sollen wir hier etwa eine Guerillatruppe bilden?“
Im Restaurant „Bedointent“ an der Straße zwischen Jericho und dem Toten Meer diskutiert Besitzer Zoha mit einigen Gästen aus den umliegenden Moschaws und Kibbuzim. Wie die Palästinenser sind alle verunsichert, keiner weiß, was passieren wird. Und wie die Palästinenser haben sie nur aus der Zeitung von der Sache erfahren. Können sie in Zukunft noch alle Straßen befahren? Und was passiert langfristig mit den Siedlungen?
Einige der Moschaw-Bauern sind verbittert. Sie haben alle Kontakte nach Jerusalem und Tel Aviv abgebrochen. Sie haben alles hier: ihre Felder, ihre Häuser. Die Kinder gehen hier zur Schule. Viele haben Angst vor einem Neuanfang. Zoha lebt schon seit 1967 in der Gegend. Jericho gefiel ihm. Die Gegend gefiel ihm. Aber jetzt wird er gehen. „Was ist schon eine Cafeteria, wenn es um den Frieden geht“, sagt er. Er hat keine Angst vor einem palästinensischen Staat, nur vor der islamistischen Hamas. „Ich würde mich nicht wundern“, sagt er, „wenn die israelischen Sicherheitsorgane in Zukunft die PLO vor Hamas schützen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen