: Das Pantoffelkino schlägt zurück
„Auf der Flucht“ – ein TV-Klassiker als moderner Thriller ■ Von Karl Wegmann
Zwischen 1963 und 1967 war der inzwischen verstorbene David Janssen jeden Dienstagabend für den amerikanischen Fernsehsender ABC auf der Flucht. Die Serie um Dr. Kimble, der fälschlich des Mordes an seiner Frau beschuldigt wird, aus der Haft flieht und sich auf die Suche nach dem wahren Täter macht, war einer der großen Straßenfeger der 60er. Die letzte Episode, in der Kimble endlich den „Einarmigen“ stellen kann, wurde in den USA von mehr Zuschauern gesehen als jede andere Folge irgendeiner anderen Fernsehserie. Mit der Einschaltquote von 72 Prozent für die Schlußepisode hielt „Auf der Flucht“ (The Fugitive) 13 Jahre lang den Rekord – dann kam „Dallas“.
Aber lange vor J.R. und Konsorten war „Auf der Flucht“ der Exportschlager. Millionen Zuschauer rund um den Globus hockten jede Woche vor der Glotze und bangten und hofften zusammen mit Dr. Kimble. Alle wußten, daß er unschuldig war, und alle waren wütend über Marshall Gerards verbissene Jagd auf den Doktor mit dem traurigen Gesicht.
Das Hollywood der Neinziger, immer auf der Suche nach Drehbüchern, bedient sich gerne bei etwas angeschimmelten Stoffen und macht auch vor Opas Pantoffelkino nicht halt. Produzent Arnold Kopelson wußte das. Ihm gelang etwas, was bisher keiner geschafft hatte: Er schnappte Dr. Richard Kimble. Kopelson vertrat Anfang der siebziger Jahre als Anwalt den ausführenden Produzenten der Fernsehserie Quinn Martin. Als der Advokat selber Filme produzieren wollte, versuchte er Martin die Rechte an „Auf der Flucht“ abzuschwatzen. Doch die waren bereits vergeben. Erst Mitte der 80er Jahre entschied sich der neue Rechteinhaber, an Kopelson zu verkaufen.
Nun ist es natürlich alles andere als simpel, aus einer klassischen 120-Folgen-Krimi-Serie einen abendfüllenden 90er-Jahre-Thriller zu basteln und damit auch noch Geld zu verdienen, vor allem dann nicht, wenn alle Welt längst weiß wie die Geschichte ausgeht. Arnold Kopelson bewies Fingerspitzengefühl: Als Autor engagierte er Jeb Stuart, der mit seinem Drehbuch zu „Stirb langsam“ (1988) neue Maßstäbe im Genre Action setzte; den Platz hinter der Kamera bekam Michael Chapman, der für Martin Scorsese „Taxi Driver“ und „Raging Bull“ fotografiert hatte; die Regie ging an Andrew Davis, der gerade mit „Alarmstufe: Rot“ einen Treffer an den Kinokassen gelandet hatte. Für die handwerkliche Perfektion war also gesorgt, fehlte nur noch der Publikumsmagnet Harrison Ford als Hauptdarsteller.
„Movies move – M-O-V-E – they move“, erklärte John Carpenter einmal und wollte damit sagen, das eine Filmgeschichte sich bewegen muß, es muß vorwärts gehen, die Handlung muß vorangetrieben werden. Das „Auf der Flucht“- Team setzt von Anfang an voll auf Geschwindigkeit. Die ganze Vorgeschichte, also der Mord, die Verhaftung Dr. Kimbles, seine Gerichtsverhandlung und Inhaftierung, erzählt Regisseur Davis, während der Vorspann läuft. Das Tempo ist mörderisch (Schnitt: Dennis Virkler/David Finfer), einmal zur Popcorntüte geschielt, schon den Anschluß verpaßt. Und Davis tritt das Gaspedal noch tiefer durch: Kimble sitzt noch immer völlig fertig im Gefangenentransporter, als seine Mithäftlinge den Ausbruch wagen. Schüsse fallen, der Fahrer wird getroffen, der Bus rutscht eine Böschung hinunter, bleibt auf Eisenbahnschienen liegen. Ein Zug braust heran, Gefangene und Wärter versuchen verzweifelt aus dem Wrack zu entkommen. Der Zug rammt den Bus, schleift ihn in voller Fahrt mit und entgleist. Kimble hat es gerade noch geschafft, sieht nun aber die entgleisten Waggons auf sich zurasen.
Diese Sequenz ist das spektakulärstes Zugunglück der Filmgeschichte seit John Frankenheimers und Bernard Farrels „Le Train“. In dem Film von 1963 läßt Burt Lancaster einen Zug entgleisen, der gestohlene Gemälde aus dem besetzten Frankreich nach Deutschland schaffen soll. Damals wie heute verwendete man keine Modelleisenbahnen. Für „Auf der Flucht“ wurde eine private Bahnstrecke gefunden, auf der man eine 125-Tonnen-Lok mit sieben Waggons von den Schienen springen ließ – nicht ohne vorher an allen strategischen Punkten sowie im Zug selbst und im zu rammenden Bus Kameras zu installieren. Das Ergebnis ist erschreckend und faszinierend zugleich.
Zeit zum Luftholen bleibt kaum. Denn jetzt ist Dr.Kimble wirklich auf der Flucht und nun nimmt Harrison Ford endlich seinen graumelierten Bart ab, sieht nach der Rasur gleich 20 Jahre jünger aus, und jeder weiß: Jetzt geht's erst richtig los. Die Jagd geht durch Krankenhäuser und Abwasserkanäle, durch Großstadtschluchten und Talsperren und mitten durch die Parade am St. Patrick's Day in Chicago. Die Filmemacher entschieden, die Festivitäten zum Gedenken an den irischen Schutzheiligen St. Patrick nicht nachzustellen. So baute die Crew am 17. Mai entlang der Marschroute der Parade ihre Kameras auf. Harrison Ford rennt vor seinen Verfolgern direkt in die Menschenmenge und marschiert mit. Der Schauspieler wurde natürlich von mehreren Iren erkannt. Einige imitierten Schußgeräusche und jemand rief: „Schau mal, da ist Indiana Jones, was hat der denn in der Klempner- Gewerkschaft zu suchen?“
Die 40-Millionen-Dollar-Produktion spielte in den USA in den ersten vier Wochen 130 Millionen ein. Das machte „Auf der Flucht“ nach „Jurassic Park“ zum erfolgreichsten Streifen dieses amerikanischen Kinosommers. Und auch in Europa scheint der Erfolg vorprogrammiert. „Alle wollen Kimble“ schrieb der Spiegel und merkt an, daß der Film selbst auf dem Festival in Venedig, „sonst auf Europas Kunstkino abonniert“, Applaus bekam. Kaum verwunderlich, denn „Auf der Flucht“ ist großes Kino. Ein moderner Thriller, perfekte Unterhaltung – schnell, packend, effektvoll und spannend. Dieser Film schafft über zwei Stunden das, was Billy Wilder immer predigt: „Man muß den Zuschauer bei der Kehle erwischen und nicht mehr loslassen.“
„Auf der Flucht“ von Andrew Davis. Mit: Harrison Ford, Tommy Lee Jones, Jeroen Krabbé u.a., USA 1993, 127 Min.
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