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Hamburger wollen Rot-Grün

■ Vernichtendes Wahlergebnis für die Altparteien / Gewinne für Grüne, Rechte und Statt-Partei     Von Sannah Koch und Florian Marten

Dramatische Verluste für SPD und CDU, eine katastrophale Wahlschlappe für die FDP – Hamburgs BürgerInnen haben gestern alle Regierungsparteien der Nachkriegszeit mit einer so nicht erwarteten Deutlichkeit abgestraft. SPD und CDU fuhren ihre jeweils schlechtesten Nachkriegsergebnisse ein, die FDP schnitt nur im Jahr 1982 – damals die Strafe für Genschers Verrat an Helmut Schmidt – schlechter ab. Die Wahlbeteiligung stieg zwar leicht auf knapp 70 Prozent – die hohe Zahl der aktiven ProtestwählerInnen für Rechtsradikale und Statt-Partei summieren sich mit den NichtwählerInnen auf eine nie dagewesene Abfuhr für die traditionelle Politik.

Wahlverlierer Henning Voscherau, der als Wahlziel „Rot pur“ und die absolute Mehrheit der Sitze vorgeben hatte, zeigte sich erst spät – und uneinsichtig. Statt der alten Wahlziele zog er nachträglich neue Prioritäten aus der Tasche: „1.Nazis nicht in der Bürgerschaft. 2. 10 Prozent Abstand zur CDU. 3. Soweit wie möglich über 40 Prozent.“ Hausaufgaben gemacht? Voscherau meint Ja und gibt es den Wählern zurück: „Die WählerInnen haben uns schwierige Verhandlungen verordnet.“ Handelskammerchef Klaus Asche soufflierte schon mal vorsorglich: „Rot-Grün wäre ein Rückschlag für die Stadt.“ Handwerkskammerchef Dieter Horchler sekundierte: „Die GAL-Wirtschaftsblockade-Politik würde aus der Metropole Hamburg eine Schlafstadt machen.“

Gänzlich ungerührt von derlei Bedenken gab sich die GAL: Erneuern und Regieren heißt ihre Devise. Zwischen Sekt und überraschend beherrschtem Jubel begann die GAL vor Fernsehmikros und in ihren Hinterzimmern sofort mit der Vorbereitung der Koalitionsverhandlungen. Spitzenkandidatin Krista Sager kündigte der SPD „harte Verhandlungen“ an. Die Wahlsiegerin will einen hohen Preis fordern: Angestrebt sind vier einflußreiche Behörden. Entscheidungen oder Vorentscheidungen sind zwar noch nicht gefallen – die Konturen der GAL-Verhandlungsführung werden jedoch schon sichtbar. Ein Ressort mit der Zuständigkeit für Verkehr, dazu starker Einfluß auf Bauen, Stadtentwicklung und Umwelt, dazu die Wissenschaftsbehörde: So könnte ein Forderungspakt aussehen. Nicht ganz aus der Welt ist auch die Forderung nach einem „klassischen Ressort“ – sprich: Krista Sager als Finanzsenatorin.

Die GAL will von der SPD zumindest Moratorien für die Großprojekte, einen sichtbaren Einstieg in die Energiewende, eine Stabilisierung des sozialen Netzes, auch mit neuen Projekt- und Initiativenformen, vor allem aber abgegrenzte Wirkungsbereiche. Eine InsiderIn: „In den Koalitionsverhandlungen geht es zuallererst darum, Politikfelder zur eigenen Gestaltung zu erhalten.“ Das Personenkarussell rotiert noch sehr leise: Krista Sager und Martin Schmidt werden vom Realo-Flügel gehandelt, die frühere Hamburgerin und heutige Berliner Stadträtin Erika Romberg (Fachgebiete: Energie, Bauen, Wohnen, Umwelt) wird vom linken Flügel ins Gespräch gebracht.

In der SPD formieren sich bereits die Lager für die erwarteten heftigen parteiinternen Auseinandersetzungen. Die Befürworter von Rot-Grün fühlen sich schon fast am Ziel – dank Wahlergebnis und der zusätzlichen Meinungsumfragen, die eine klare Präferenz von SPD-Symphatisanten und BürgerInnen für Rot-Grün signalisieren. Heute abend um 18 Uhr wird der SPD-Landesvorstand eine wichtige Weichenstellung vornehmen: Teile des Vorstandes wollen ein Nein zur Großen Koalition schon jetzt festklopfen. Der noch amtierende Stadtchef Henning Voscherau und SPD-Fraktionschef Günter Elste wollen dagegen freie Hand für Verhandlungen nach allen Seiten. Voscherau liebäugelt bereits mit einer Minderheitsregierung, ermöglicht durch die Statt-Partei. Günter Elste wiederum tendiert in Richtung Große Koalition.

Das SPD-Personal-Karussell kommt in Bewegung: Günter Elste hat sich vor wenigen Tagen vorsichtshalber schonmal seinen Posten als Chef der Hamburger Staatsholding HGV vorzeitig um fünf Jahre verlängern lassen, und Innensenator Werner Hackmann strebt zielsicher die Position des Fraktionsvorsitzenden an. Er ist das Amt des Innensenators leid.

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