piwik no script img

Boris Jelzin: Kein Schritt zurück

Das Präsidentenamt will an „seinen“ Terminen für Neuwahlen festhalten / Beim Treffen der Regionen in St.Petersburg waren vor allem die „alten Kräfte“ vertreten  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Kompromisse sind eigentlich nicht mehr nötig in Moskau. Einige Abgeordnete, Ruslan Chasbulatow und Generalmajor Ruzkoi halten zwar immer noch die Stellung im „Weißen Haus“, dem Sitz des russischen Parlaments. Doch der Alltag um sie herum geht weiter und straft sie mit Gleichgültigkeit. Man kann Konflikte auch produktiv aussitzen, das hat Präsident Jelzin in der letzten Woche bewiesen.

Noch bleibt der Präsidentenapparat bei den ursprünglichen Terminen für Neuwahlen: Das Parlament wird im Dezember, der Präsident im Juni gewählt. Doch die Kompromißvorschläge aus dem anderen Lager häufen sich. Verfassungsrichter Sorkin favorisiert gemeinsame Wahlen noch im Dezember.

Beachtung erfuhr dieser Vorschlag bei einem Treffen von 39 Vorsitzenden örtlicher Parlamente und acht Vorsitzenden der regionalen Exekutive, die sich am Wochenende in St. Petersburg trafen. Unter ihnen waren auch „Emissäre“ Ruzkois sowie Sergej Schachrai als Vertreter der Regierung. Stahlharte Typen wie der Vorsitzende des Obersten Sowjets Kareliens stellten die Mehrheit der Abgesandten der Legislative. Der junge Präsident Kalmückiens Iljumschinow war eher eine positive Ausnahme. Aber auch er plädiert für gleichzeitige Wahlen und eine Verstärkung des Gewichts der Regionen. Insgesamt gehören der Russischen Föderation 88 Subjekte an. Die Versammlung in Petersburg war alles andere als repräsentativ. Sie sprach sich für Sorkins „Kompromiß“ aus und empfahl, den Föderationsrat zusammenzurufen, der das Procedere für die Urnengänge in Angriff nehmen sollte.

Seit längerem sind die Regionen als selbstbewußte Subjekte in die russische Politik eingetreten. Früher waren sie Anhängsel Moskaus und Rohstofflieferanten, die das Zentrum nicht besonders beachten mußte. Damit ist es vorbei. Ihres Gewichts bewußt, wollen sie nicht nur für ihre Unabhängigkeit etwas herausschlagen, sondern auch bei der Machtfrage in Moskau ein Wörtchen mitreden. Als klar wurde, daß das russische Parlament die Reformen nicht mittragen würde, bemühte sich Jelzin offen um die Unterstützung der Republiken und Gebiete. Schließlich konnte er sicher sein, daß sie eher ihn denn die im alten Denken verhaftete Mehrheit des Parlaments unterstützen würden. Denn diese will die Provinzen wieder unter die Knute Moskaus zwingen.

Um die Provinzen aufzuwerten, richtete Boris Jelzin einen Föderationsrat ein, dem die Vorsitzenden der Exekutive angehören und der Mittwoch tagen soll. Über dessen Bedeutung glaubte er mehrmals die obstinate Legislative im Lande zum Schweigen zu bringen.

Verfassungsrechtlich besitzt der Föderationsrat keine Legitimation. Erst in der neuen Verfassung sollen die Vertreter beider Gewalten aus den Regionen die eine Kammer eines Zweikammernparlamentes bilden. Inwieweit der Föderationsrat dennoch über Autorität verfügt, zeigt die Empfehlung der Petersburger Versammlung, die den Rat mit den Wahlvorbereitungen beauftragte.

Im Endeffekt wird der Föderationsrat Jelzins Linie vertreten. Rußlands Regionen haben sich mehrheitlich für den Kurs der Regierung ausgesprochen. Selbst jene Regionen, die sich gegen Jelzin stellen, haben dem Parlament offen keine Unterstützung zuteil werden lassen.

Das Verhältnis der Provinz gegenüber der Führung in Moskau ist dennoch eher zwiespältig. Der schwindende Zugriff Moskaus hat den Lokalfürsten einen ziemlich großen Handlungsspielraum unfreiwillig eingeräumt. Man hat Blut geleckt und nun möchte man einen Präsidenten nach eigenem Gusto. Einen, der das Interesse der Regionen durchsetzt.

Der jetzige Moment ist dafür jedoch nicht der passende. Das werden auch sie einsehen und daher noch einmal mit Jelzin marschieren. Bei den Wahlen mögen sie dann einen eigenen Kandidaten präsentieren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen