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Das Recht auf Kunst

Das Behindertenprojekt „Sonnenuhr e.V.“ in der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg: Die erste Theater- und Ausstellungsstätte für Behinderte öffnet ihre Tore  ■ Von Raimar Brahms

„Das wird ein Spaß“, meint der Mann im blauen Overall, schaut mich mit großen, erwartungsvoll heiteren Augen an und lacht sich geheimnisvoll undurchsichtig ins Fäustchen. Ich stolpere durch ein noch ganz chaotisch anmutendes Gelände, den ehemaligen Dusch- und Baderäumen einer stillgelegten Brauerei im Prenzlauer Berg. In einer Woche soll hier eine ordentliche Ausstellung eröffnet werden, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Der Mann im Overall winkt freundlich und weist mich die Treppe hoch.

Im ersten Stock geht es drunter und drüber: Überall stehen noch verpackte oder erst halb enthüllte Gemälde auf der Seite, auf dem Kopf – der hier organisierende Geist ist noch mitten in der Arbeit, das ordnende Prinzip hat sich noch nicht durchgesetzt. Und die Bilder, die hier und da schon mal ihre grellbunten Farben und großflächigen Figuren zeigen, scheinen einer Phantasie zu entspringen, die eine solche Ordnung gar nicht zulassen mag.

Auch der laut hamburgernde Mann, den hier alle freundlich Kuddel nennen, fühlt sich in dem Durcheinander sichtlich wohl und führt mir sofort eine Reihe von aneinandergestellten Spinden vor, die eine enge Gasse bilden und gelegentlich mit kleinen Pin-up-Girls verziert sind: „Wissen Sie, was das ist? Das ist die Herbarthstraße. Kennen Sie Hamburg? Kennen Sie das? Da wo die Nutten sind. Ein Stück Hamburg ist nach Berlin gekommen.“

Ein Stück Hamburg ist nach Berlin gekommen und eröffnet eine Woche nach meiner Stippvisite tatsächlich eine veritable, einigermaßen ordentliche Ausstellung mit Bildern, die unbändigen Träumen und Phantasien entsprungen sein müssen und sich mit wildem Charme aller ordnenden Gewalt widersetzen. Die „Schlumper“, eine seit nunmehr neun Jahren existierende Gemeinschaft bildender Künstler, stellen in der Kulturbrauerei, Dimitroffstraße, ihre alles andere als gewöhnlichen Kunstwerke aus. „Schlumper sind nicht normal, sondern schwer begabt. Schlumpern ist nicht ansteckend, weil Schlumpern Schlumpern Spaß macht“, sagen die Künstler über sich und ihr Projekt, in dem 30 geistig und körperlich Behinderte aus therapeutischen Wohngruppen seit 1984 im ehemaligen Luftschutzkeller des Hamburger Rot-Kreuz-Krankenhauses Beim Schlump 84 ihrer Kreativität freien Lauf lassen dürfen.

Wer besser, als diese in ihren Gefühlen so gar nicht gehandikapten Menschen, könnte mit offensichtlichem Phantasiereichtum und unbändigem und einnehmendem Charme dem selbstgerechten Normalen ein Schnippchen schlagen, dessen kulturelle Langeweile anderswo zwischen glitzernder Abendgarderobe und netten Kaviarhäppchen ja nur allzu schlecht kaschiert wird? Wer die Bilder sieht, die Masken, Plastiken und Environments, die diese Menschen aus ihrer lebhaften Phantasie zaubern, dem fällt es nicht leicht, etwas von den plötzlich irgendwie blassen Maßstäben festzuhalten, die das bourgeoise Kunstverständnis uns gelehrt hat und in dem die elementare Ausdruckskunst geistig Behinderter so gar keinen Platz finden mag.

Der Allroundkünstler Uwe Bender, Sänger und Maler, hat sich durch dieses Vorurteil gekämpft. Bernd Laute, Leiter der Schlumper, erklärt: „Irgendwie ist Kunst immer das letzte, was man geistig Behinderten zutraut. An Kunst werden offensichtlich viel höhere Maßstäbe angelegt. In den Behindertenwerkstätten wird alles mögliche angeboten, nur keine Kunst.“

In der Anstaltsrealität werden alle anderen Produkte von geistig Behinderten wirtschaftlich verwertet, auf Basaren werden dann die Handarbeiten, die typischen Dinge, die man so in Anstalten macht, ausgestellt. Aber Uwe Bender konnte an solchen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Er war „werkstattuntauglich“ – er wollte immer nur malen. „Er hat dann seine Bilder draußen vor den Türen im Regen gezeigt“, erklärt Bernd Laute, „mit Steinen beschwert, damit sie nicht wegfliegen. Also der Künstler innerhalb der Randgruppengesellschaft geistig Behinderter war wieder Außenseiter. In einer Außerseitergruppe nochmals Außenseiter.“

Heute allerdings ist Uwe Bender, der sich gerne schrill mit Käpitänsmütze und Noppenarmband kleidet, ein selbst durch die Behörden anerkannter Künstler, dem ganz normal seine Sozialversicherung zuerkannt wird.

Daß er jetzt mit einigen seiner Kollegen nach Berlin gekommen ist, verdankt er einem weiteren Meilenstein auf dem Weg der Anerkennung verhinderter Kunst: Direkt nebenan im ehemaligen Pferdestall der Brauerei öffnet die erste Theaterstätte für Behinderte in Deutschland seine Tore und lädt zu einem frei nach Shakespeare entwickelten „Winternachtstraum“. Nach den Vorstellungen von Klaus Erfordt, Regisseur und gute Seele des Behindertenprojekts „Sonnenuhr e.V.“, das vor nun gut zwei Jahren in die Räume der Kulturbrauerei eingezogen ist, soll hier jedoch mehr als ein Ort beschränkter Öffentlichkeit für einen kleinen Kreis Betroffener entstehen: „Wir wünschen uns, daß das Theater zu einer Tribüne wird, auf der diese besonderen Menschen ihre Probleme zur Diskussion stellen können, aber nicht nur die: Wir stellen uns vor, daß auch andere Menschen, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben, hier ihr Podium finden. Ein Ort der Toleranz, wo Ausländer und jeder, der irgendwie anders ist, sein Feld finden kann.“

Der Ort im neuen Herzen Berlins verspricht genau das zu werden, wenn es gelingt, die bürokratische Hürden zu nehmen. Trotz aller Förderung und mehreren ABM-Stellen steht das ganze Projekt noch nicht auf festen Füßen. Die fünf auf dem Gelände angesiedelten Gesellschafter, zu denen der mit seiner Livemusik bekannte Franzclub ebenso zählt wie die noch ganz unbekannte Stifung Alltagskultur und Design, hatten nach der Wende entschieden, sich nicht dem Senat an den Hals zu werfen. Klaus Erfordt: „Wir wollten nicht diese Bürde von finanziellen Forderungen, die aus so einem Areal entstehen, dem Land Berlin übergeben, weil wir uns auch sagten, das hat gar keinen Sinn, das Geld wird nie dasein. Darum haben wir uns von vornherein um ein Konzept bemüht, bei dem ein privater Investor dies übernimmt. Es sind 50.000 qm2 Fläche. 15.000 qm2 davon möchten wir als Kulturbrauerei verwalten. Wenn ein Investor dieses Projekt übernimmt, dann muß er auch das Konzept der Kulturbrauerei anerkennen und übernehmen – das ist die klare Verabredung mit der Treuhand, darauf hin laufen alle Mietverträge.“ Das alles geht aber – rezessionsbedingt – nicht so schnell, wie man möchte; während die Produktivität der Gesellschafter längst vorwärtsdrängt. „Wir erleben gerade, wie die Strukturen aufbrechen“, lächelt Erfordt sanftmütig und fügt hinzu: „etwas fußgängerisch.“ Immerhin hat der Senator für Soziales seine Unterstützung für „Sonnenuhr e.V.“ schon angekündigt, für den Fall, daß die Eigentumsverhältnisse geklärt sind.

Die Eröffnungsveranstaltung der Theatergruppe RambaZamba jedenfalls hat alles, um das ehrgeizige Projekt zum Erfolg zu führen. Die Gruppe, die schon mit Aufführungen ihres Stücks „Prinz Weichherz“ auf sich aufmerksam gemacht hat und für volle Ränge im Deutschen Theater sorgte, kommt nun mit einem Kammerspiel der Gefühle daher, das einmal mehr die totale Hingabe der Behinderten an das Spiel und an den Glauben des Gespielten offenbart. Dabei handelt es sich durchaus nicht um ein mit therapeutischer Akuratesse zusammengehaltenes Ereignis, dem der Nicht-Betroffene nur mit voyeuristischer Distanz folgen mag.

Im Gegenteil: Die Darstellung ist äußerst experimentell und fordert einen unvoreingenommenen und wachen Zuschauer, der ganz in das Geschehen hineingezogen wird. Ganz anders als die versöhnliche, eher harmonische Stimmung des „Prinzen Weichherz“ schlagen die Darsteller diesmal erheblich schrillere Töne an und führen eine ganze Reihe von Liebespaaren vor, die gegen Gefühlskälte und falsche Leidenschaft ankämpfen müssen.

Und ganz nebenbei erfüllt sich hier ein Urtraum künstlerischen Selbstverständnisses: Der Existenzgrund des Künstlers als gesellschaftliche Randerscheinung (und nicht als mäzengesättigter Bourgeois) verbindet sich kongenial mit einem weisen, klugen Narrentum, das ehemals den Königen die Wahrheit ungestraft um die Ohren hauen durfte. Der schelmische Puck dieses „Winternachtstraums“, das Projekt „Sonnenuhr e.V.“ mit seinen Ausstellungen und mit seinem Theater RambaZamba sind von dieser Qualität. Es wäre zu wünschen, daß sich die finanziellen und bürokratischen Schwierigkeiten bald klären, so daß sich die Kulturbrauerei und das Theater am Pferdestall zu einer vielbeachteten und gar nicht normalen Kunststätte mausern können. Neben der Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz hätte Berlin dann schon eine zweite Spielstätte, an der Kultur und Leben unmittelbar zusammengehören.

Kulturbrauerei, Schönhauser Allee 36/39. Eingang Knaack-/Ecke Dimitroffstraße, Tel.: 440 92 09.

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