: Der einzige Luxus: eine Glühbirne
Die letzten Höhlenbewohner der Slowakei stehen zu ihrer schlichten Behausung ■ Von Tomas Niederberghaus
Maria Obertikova führt ein Leben bar jeder Abwechslung. Sie verspürt kein Bedürfnis nach Büchern, Unterhaltung oder den Lastern der westlichen Zivilisation. Und wenn sie an ihrem Leben etwas ändern könnte, dann würde sie es wie die Popsängerin Liza Standsfield halten: Sie würde nichts ändern. Vielleicht eins. Ihrem Hahn würde sie auf die Sprünge helfen. Denn der Mistkratzer stellt sich gerne stur. Gestern früh beispielsweise hat er keinen Ton von sich gegeben; und Maria Obertikova hat prompt verschlafen.
Größtmögliche Genügsamkeit bestimmt das Leben der hutzeligen Frau. Wasser pumpt sie aus dem Brunnen. Sie besitzt weder Badezimmer, Wecker noch Waschmaschine. Telefon und Fernseher sind ihr fremd. Keine Konservendose ist in ihrem Steingemäuer zu finden. Maria Obertikova lebt in einer Höhle. In Brhlovce schreibt das Höhlenleben eine eigene Geschichte.
Brhlovce ist eine 409-Seelen- Gemeinde am untersten Zipfel des südslowakischen Stiavnicke-Gebirges; ein üppiger Obstgarten mit Weinreben, Hopfensträuchern und kleinen Akazienwäldern. Ein Ort, in dem es fast soviel Hunde wie Einwohner gibt. Und ein Ort, dessen Höhlenkult bis ins 16.Jahrhundert zurückgeht: Das Volk meißelte sich lauschige Steinverließe in den Berg, um Gewehren und Säbeln der Türken zu entgehen, die damals das Ungarische Reich besetzten. Später wurden die Schächte in winzige Wohnungen, Vorratskammern, Werkstätten und Ställe verwandelt.
Höhlen wie in Brhlovce sind in südslowakischen Dörfern keine Seltenheit. Doch Maria Obertikova und fünf weitere Menschen in Brhlovce sind die einzigen, die an ihrer spartanischen Unterkunft festgehalten haben. Die eher von einem Felsen erschlagen werden, als daß sie einer Zivilisationskrankheit erliegen. „Im Jahre 1952 bekam ich elektrisches Licht“, sagt Obertikova und zeigt auf die Glühbirne unter der Decke. Mehr Luxus möchte sie nicht. Ihre Kinder wollten ihr unlängst fließendes Wasser in die Höhle legen, aber da hat Maria Obertikova entschieden protestiert. „Als könne ich keinen Eimer Wasser tragen“, sagt die freundliche Babicka.
Die Zeit in der Höhle ist nicht stehengeblieben. Einiges hat sich geändert. „Stellen Sie sich vor: Früher haben hier drei Familien mit insgesamt zwanzig Kindern gelebt“, erzählt die 73jährige Greisin, die seit 72 Jahren die Höhle bewohnt. Dabei kann sie sich das Lachen nicht verkneifen. Denn: Die beiden Kammern haben zusammen etwa die Größe einer gewöhnlichen Garage. Decken und Wände sind mit einem Gemisch aus Stroh und Speis zugekleistert und verschiedenfarbig bepinselt. Applikationen geben einen kunstvollen Effekt.
Es geht das Gerücht um, daß diese Art der Wanddekoration Andy Warhol inspiriert haben soll. Seine Eltern waren bekannte Innenarchitekten in dieser Region. Bevor Andy geboren wurde, wanderten sie in die Staaten aus.
Die Staaten liegen für Brhlovces archaische Höhlengemeinde jenseits selbstgesteckter Grenzen. Julius Homola, der kleine, apfelbackige Nachbar von Maria Obertikova, gesteht: „Ich war nie in Prag. Nur in Bratislava. Das war 1952, da mußte ich zum Arzt.“ Seitdem fühlt er sich topfit.
Homolas Familie zog im 18.Jahrhundert nach Brhlovce. Sein Vater nahm eine Stelle als Wirtschafter auf dem, wie Julius Homola sagt, „Schloß“ an. Dieses imposante Herrenhaus wurde 1756 von wohlhabenden Goldgrubenbesitzern gebaut. Sämtliche Bewohner von Brhlovce waren dort beschäftigt. Als das Gut irgendwann – genau kann sich niemand erinnern – Feuer fing, mußten die Arbeiter aus den Nebengebäuden raus; einige zogen in die Höhlen.
Noch heute thront das heruntergekommene Castel wie ein dämonisches Märchenanwesen auf dem Berg über Brhlovce. Alte Chroniken besagen, daß es dort irgendwo einen Goldschatz. In der Lokalzeitung wurde kürzlich geschrieben, daß Brhlovce mit der böhmischen Burg Karlstein Konkurrenz aufnehmen könne. Die Schatzkammer in Karlstein wurde allerdings schon 1419 geräumt. „Damals gab es zwei türkische Sklaven“, sagt Helena Sroufekova, Schwester des heutigen Castel-Besitzers, „die sollen genauestens über den Schatz bescheid gewußt haben, doch sie wurden hingerichtet.“ Inzwischen glaubt niemand mehr, daß „dort oben“ jemals etwas gefunden wird.
In der kleinen, staubgeplagten Gasse vor der Höhlenmeile lungern Katzen, Hunde und Hühner in der Spätsommersonne. Eine Dunstwolke aus frischgeschlagenem Akazienholz und Entenkot hebt sich an diesem Samstag nachmittag über die Gemeinde. Gänse schnattern. Sägen surren. Vor Homolas Höhle wird tüchtig gewerkelt: Vermummt in karierten und geblümten Kopftüchern, Kittelschürzen und Wollwesten hocken Frauen vor einem gewaltigen Kartoffelberg. Schnelle Finger schrammen den Lehm ab. Ein kahlköpfiger Mann trägt die Erdäpfel in die Höhle; sein Bauch ist so dick, als habe er gerade einen Eimer davon verzehrt.
Holzhacken und Einkellern sind Vorbereitungen für den Winter. „Schnee und Eis kommen oft schneller als erwartet“, sagt Homola, der sich gerne von seiner Arbeit abhalten läßt. „Die Kühe müssen noch gemolken werden“, ruft er seinem Enkel zu. Auch das liebe Vieh residiert in der Höhle – natürlich mit eigenem Eingang.
Homola schiebt seine Kordkappe auf den Hinterkopf. Stolz erklärt er, daß er mit zwei weiteren Männern zwölf Jahre lang Steine aus dem Berg gemeißelt hat. Und so besitzt er heute nicht nur eine Mehrkammern-Höhle: Von dem Erlös der Felsbrocken, die er an einen Steinmetz verkauft hat, konnte er ein kleines Häuschen in seinem Vorgarten bauen. „Nur für Besucher“, fügt er hinzu, „ich würde dort niemals einziehen.“ Homola weiß die Vorteile der Höhle zu schätzen: „Im Winter braucht man abends nur ein kleines Feuer zu machen und es bleibt bis morgens warm. Im Sommer ist es immer kühl.“
Wahrer Genuß liegt im Geben. Wenn die Kinder nebst Enkelkinder sonntags zu Besuch kommen, legt Maria Obertikova ihre Höhle mit selbstgewebten Teppichen aus und zündet eine Kerze an. Kurz bevor die Familie dann abreist, packt sie so ziemlich alles ein, was Stall und Garten zu bieten haben: Blumen, Obst, Gemüse und frisch gerupfte Entenfedern für Kissenfüllungen.
Manchmal, sagt Maria Obertikova, werde von ihr allerdings zuviel verlangt. Unlängst klopfte die PRLÁ, das slowakische Pendant zur Unesco, an ihre Holztür. Da hat man sie erneut gefragt, ob sie ihre Höhle nicht für Museumszwecke abgeben wolle. Dafür erhalte sie eine Wohnung in einem Plattenbau, selbstverständlich mit allem, was zum modernen Leben gehört.
Mit einer Wohnung kann man einen Menschen erschlagen wie mit einer Axt, hat Bert Brecht gesagt. Maria Obertikova und ihre Nachbarn lassen sich so leicht nicht erschlagen. In einer Höhle zu wohnen bedeute, in Einheit mit der Natur zu sein, sagt Obertikova, und „was Großeltern und Eltern geschaffen haben, darf man nicht einfach verkaufen“.
Nur eine der Bewohnerinnen hat vor zwei Jahren den Ehrenkodex ordentlicher Höhlenmenschen gebrochen, hat ihr trautes Heim an das Institut für Denkmalschutz abgetreten: Höhle 142 ist bereits Museum. Jeder touristisch beschuhte Fuß kann eintreten. „In meine Höhle können Fremde auch einen Blick werfen“, sagt Maria Obertikova etwas enttäuscht, „dort gibt es nicht viel weniger zu sehen.“ – Die PRLÁ würde es jedoch lieber sehen, wenn sämtliche Höhlen des 60 Millionen Jahre alten Vulkanfelsens ein einzigartiges Museum bildeten. Und ein Privatmann wittert bereits großes Geschäft mit Touristen: Alexej Molnar, der vor einiger Zeit noch eine leerstehende Höhle kaufen konnte, möchte bald ein Restaurant aufmachen. Das gibt es in Brhlovce noch nicht. Dem gewieften Geschäftemacher ist zuzutrauen, daß er draußen ein Schild „Zur goldenen Höhle“ anbringt und innen slowakischen Wein als „Grotten- Geist“ verkauft. Spätestens dann könnte Brhlovce mit Karlstein konkurrieren, und Maria Obertikova hätte ein Leben in Abwechslung.
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