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SanssouciNachschlag

■ Therapiestation Märchenabend

„Der Abend kam, aber der liebe Gott“ (oder die große Erleuchtung) „war noch nicht gekommen“ – dieses (ergänzte) Zitat aus der schwedischen Fama „Der Zigeuner“ enthielt vielleicht implizit den aktuellsten politischen Lagebezug der Veranstaltung „Märchen über das Fremdsein“ am Donnerstag im Argument-Buchladen in der Reichenberger Straße. Genau war das nicht zu bestimmen. Die ehemalige Berliner Religionslehrerin Renate Raber erzählte vier Märchen aus vier Ländern – aufgebaut nach dem Prinzip der Grimmschen Volksmärchen. Der integre, aber schwache Held hat eine ganze Reihe nicht zu kalkulierender Gefahren und Entsagungen zu überstehen. Oder er muß im richtigen Moment nur den in versteckter Armut auftretenden großen Meister aufnehmen, um zu seinem Glück zu gelangen. Der indische „kuwi-kont“ (freie Bergbewohner) mußte – schikaniert von einem plötzlich nach wohlriechenden Blumen gierenden König – auf Rat seiner Mutter zu den gefürchteten Riesen, um seine Fee zu bekommen. Stefan, der besonnenste der drei rumänischen Erben einer kärglichen Hinterlassenschaft, setzte sich dem Verlust seines Erbes aus, um seine Traumfrau zu bekommen. Und das verarmte Ehepaar teilte seine einzigen Luxusgüter mit dem als Bettler verkleideten Gott, um drei Wünsche erfüllt zu bekommen. Die Akteure mußten handeln, um das Happy- End der Geschichte einzuleiten.

Renate Raber hat vor sieben Jahren Märchen „wiederentdeckt“. Sie will mit ihren auch in Kitas oder bei Bildungsveranstaltungen für Erwachsene durchgeführten Erzählstunden einen Anstoß zu Lebenshilfe geben. Die Zuhörer sollen sich die Frage stellen: „Was hat man gehört? Was ist in einem passiert?“ Nach einem solchen Abend fragt man sich das allerdings. Davon, daß sie sich das Märchenerzählen in der „Märchengesellschaft e.V.“ angeeignet hat, die Märchen soziolgisch, historisch und psychologisch deutet, spürt man wenig. Das pseudokathartische Eintauchen in ein neues asketisches Ego-Interieur ist offenbar die Strategie der Zukunft. Und das angesichts immer größer werdender Verarmung und angesichts eines diskursiven Bauens am neuen Volkskörper durch die konservative Rückwärtsbewegung nach dem Zusammenbruch der DDR. Der sich selbst auf die Schulter klopfende Betroffenheits-Kult eines Teils der Zuhörer zeigte noch einmal den hartnäckigen Fortbestand eines sozialromantisch verklemmten Anti-Engagements. Matthias Trendel

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