■ Panische Reaktionen in der Blut-Aids-Affäre: Blut und Moral
Keine Frage: Wer heute in ein Auto steigt, geht ein sehr viel größeres Risiko ein als jeder Empfänger von Blutprodukten. Aber Risiken, das haben wir gelernt, darf man nicht gegeneinander ausspielen, man muß sie ernst nehmen, selbst wenn sie noch so klein sind. Und für diejenigen fünf, sechs oder acht Menschen, die sich in jedem Jahr durch Blutprodukte mit HIV infizieren, ist der Hinweis, daß die Wahrscheinlichkeit ihrer Ansteckung bei eins zu einer Million lag, kein Trost, sondern Verhöhnung.
Deshalb muß das Notwendige und Machbare getan werden, um das Risiko zu verkleinern. Also: Quarantäne und zweiter Antikörper-Test, Ende für alle bezahlten Blutspenden, Motivation der Patienten zur Eigenblutspende und Organisation der nationalen Selbstversorgung mit Blut. Daß es auch dann noch zu einzelnen HIV-Übertragungen kommen wird, ist unvermeidlich.
So berechtigt die Diskussion um die Sicherheit der Blutprodukte ist, so verwunderlich ist sie gleichzeitig. Dieselbe Gesellschaft, die achselzuckend zur Kenntnis nimmt, daß sich allein in diesem Jahr etwa 2.000 Schwule und Junkies in Deutschland infizieren, fällt angesichts von wenigen Einzelfällen an HIV-verseuchtem Blut in hysterische Zuckungen. Dieselbe Gesellschaft hat jahrelang ungerührt zugesehen, wie sich in den Knästen viele hundert Knackis infiziert haben, weil keine Spritzbestecke zur Verfügung standen. Und sie sieht jetzt wieder zu, wie der Deutschen Aids-Hilfe die Mittel zusammengestrichen werden, wie wichtige Präventionsarbeit in Modelleinrichtungen zusammenbricht. Aids, so scheint es, wird erst dann zum Thema, wenn der saturierte heterosexuelle Kleinbürger ein Risiko wittert.
Immer wieder wird in der augenblicklichen Diskussion wiederholt, daß die Bluter und Transfusionsempfänger, die sich mit HIV infiziert haben, „ganz normale“ Menschen seien, die ohne jede Schuld infiziert worden seien. Solche Äußerungen implizieren, daß die anderen offenbar nicht so ganz normal und vermutlich an ihrer Infektion selber schuld sind. Auch dies zeigt, wie verquer die Diskussion läuft.
Und noch etwas fällt auf: Während das BGA derzeit als Watschenmann der Nation herumgereicht wird, spricht niemand mehr von der Mitverantwortung des Roten Kreuzes, der Pharmaindustrie, der leitenden Ärzte im weltweit größten Hämophilie-Zentrum in Bonn, der Virologen und der Medien. Sie alle haben an der späten Reaktion auf den Einbruch der Aids-Krise in den achtziger Jahren ihren Anteil. Auch die Aids-Politiker. Von ihnen kommen jetzt neue Vorschläge zur Einführung der Meldepflicht. Seehofer soll dies ebenfalls „erwägen“. Damit wäre dann der endgültige Höhepunkt des Skandals erreicht: Die panischen Reaktionen der Bevölkerung werden dazu benutzt, um längst überwunden geglaubte Gauweilereien aus der Mottenkiste der Aids-Bekämpfung wieder auszugraben. Die Irrationalitäten, so scheint es, sprießen bei Aids wie bei keinem anderen Thema. Manfred Kriener
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