: „Notfalls Dosenwerfen oder so“
■ Von Zuckerbudenbetreiberehre und anderen Merkwürdigkeiten eine Woche vor dem Winter-Dom Von Kaija Kutter
Das Riesenrad steht schon seit einer Woche. Diesmal ist es das kleinere mit den runden Gondeln. Das größere mit den hüttenförmigen Gondeln (und dem häßlichen bayerischen Wappen) steht im westfälischen Soest. „Dort lohnt sich's mehr, weil der Platz kleiner ist und die Spielzeit kürzer“, erzählt der junge Mann, der im gläsernen Führerhäuschen die Füße auf den Tisch gelegt hat. Auf dem Hamburger Heiligengeistfeld würden die Menschen oft nur gucken und vorbeigehen, weil sie sich denken, da kann ich eine Woche später immer noch mal rein.
Fast wird ein Traum wahr. Ob ich fahren will? Einfach so, einsteigen und im Schein der goldenen Oktobersonne den hektischen Feierabendverkehr aus der Luft betrachten. Die Speichen des riesigen Rades sind gold, orange und rot gestrichen, die Gondeln glitzern ein wenig metallic, gelb und blau. Die Aluböden – kaum abgenutzt, das Rad ist fünf Jahre jung – reflektieren goldsilbern das Sonnenlicht am Millerntor. Der junge Mann heißt Michael Krollop, trägt Jeansjacke und eine schwarze Handwerkerhose. Sieht nach Arbeit aus und irgendwie total süß. „Ich frag mal meine Chefin.“ Er verschwindet, klopft vorsichtig an einer Wohnwagentür an.
Einfach so Riesenrad fahren, das wird doch nie und nimmer erlaubt. Doch es steht schon, sieht stabil aus. Ein Lastwagen für die Speichen und zwei Mastenwagen werden benötigt, dann werden die Masten per Hydraulik hochgestemmt und die Speichen montiert. Die Gondeln kommen extra. Schade, die Chefin hält ihren Nachmittagsschlaf. „Das Rad baut sich praktisch von selbst auf“, erzählt Krollop. Trotzdem, zwölf Mann seien immer dabei.
Und was tut man so als Riesenrad-Fahrer. Der blonde Junge zeigt auf einen schlichten Hebel in der Kabine. Vier Eingänge habe das Rad. Um alle 32 Gondeln zu besetzen, müßte er achtmal anhalten. Wie lange geht eigentlich so eine Riesenradfahrt? Eine Frage, die die Autorin von kleinauf bewegt und beschäftigt, wenn der Genuß und das Hochgefühl nach den ersten Umdrehungen nachläßt, weil das Ende – viel zu schnell – unerbittlich naht. Wie lange also? „Das ist unterschiedlich.“
„Waas?“
„Mal drei, mal vier Minuten“.
„Wieso das?“
Michael schmunzelt wieder und holt eine kleine rote Plastik-Sanduhr vom Regal. „Die dreh' ich immer um. Und das ist unterschiedlich lange.“
„Ach so“.
Zehn Tage vor Eröffnung des 664. Hamburger Doms dominiert noch das schlichte Eierschalenweiß der Wohnwagen. Nur hier und da stehen erste Metallgerüste, mal mit Planen verdeckt, mal mit bunten Werbeleisten verziert, die kreuz und quer in die Luft ragen und die Dombuden wie die Karikatur ihrer selbst erscheinen lassen. Noch ist nicht zu erkennen, ob es sich um aufwendige Fahrgestelle oder simple Imbißbuden handelt. Trotzdem ist Leben auf dem Heiligengeistfeld, Mütter schieben ihre Kinderwagen zwischen den Gassen, halten hier und da für einen kurzen Schnack, andere fahren mit dem Rad umher, manche spritzen verbissen ihre Buden mit Wasser ab und schnarren – alles andere als gesprächsbereit – der Reporterin einfach nur ein „keine Zeit“ entgegen.
Wieder anderen kommt Publizität gelegen. Matthias Fahning, zum Beispiel, der zusammen mit seinem Großvater Willi ein 1942 gebautes Kinderkarussell betreibt, posiert bereitwillig für ein Foto. Nur schade, daß die kleinen Spielzeugautos noch in Planen verpackt sind. Wie bei fast allen Karussells bildet ein abgekoppelter Anhänger den Sockel für Motor und Mast. Eine bescheidene Konstruktion, angetrieben von einem Motor, nicht größer als der eines Schlauchbootes. Er müsse sich wohl doch eines Tages von dem antiken Karussell trennen, sagt Fahning. Die Wirtschaftsbehörde verlange moderneren Standard.
Die meisten der 280 Plätze sind zwar fest vergeben an Schausteller, die je nach Jahreszeit mit verschiedenen Geräten anreisen. Kommt ein Newcomer jedoch mit einer guten neuen Idee, so Behördensprecher Wolfgang Becker, räume das Dom-Referat auch diesem eine Chance ein. Doch die Suche nach immer neuen Effekten liegt auch im ureigensten Interesse der Schausteller selbst, die Umsatz machen wollen. Als Ulrich Behnck vor sechs Jahren seinen Froschstand eröffnete, sei es der ganz große Renner gewesen, berichtet er. Die Idee des Geschicklichkeitsspiels, bei dem die kleinen Plastiktierchen per Hammerschlag in ein Wasserbecken katapultiert werden, habe er aus Holland abgeguckt.
Inzwischen hat der Schausteller ein Problem: Es gibt keine Plüsch-Frösche mehr, die er als Gewinn verteilte. Während er seine Kundschaft mit Teddys und Dinos vertröstet, hält er fieberhaft Ausschau nach etwas Neuem. Doch auf den Urlaubsreisen in den USA habe er nichts Spannendes entdeckt. „Nur diese moderne Sache mit den Greifern, aber sowas mag ich nicht.“ Wenn er nichts anderes finde, mache er demnächst wieder Dosenwerfen oder so.
Auch Emil Lehmann, der Chef der „Geisterschlange“, gibt geduldig ein Interview, während er mit dem rechten Auge durch ein Ni-velliergerät schaut und seine Arbeiter wie ein Feldwebel dirigiert. Die Sohle für die vierstöckige Geisterbahn muß hundertprozentig eben sein, sonst paßt das Eisengestänge in zwölf Metern Höhe nicht zusammen. Hier eine dünne Aluplatte, dort ein Balken mehr, allein der Aufbau der untersten Plattform hält sechs Männer über Stunden in Bewegung.
Nirgendwo sei der Boden so schief wie auf diesem Platz, sagt Lehmann, der mit seiner zweieinhalb Millionen Mark teuren Geisterbahn just von der „Cannstadter Was'n“ in Stuttgart angereist kommt. 13 Lastwagen voll, einen allein für den neuesten Effekt, den Bastler Lehmann sich ausgedacht hat: Ein sechs Meter hoher Riese, der so tut, als würde er die Fahrkabinen mit seinen Händen greifen.
Eigentlich sind alle Dom-Beschicker ständig um Produktinnovation bemüht. Der Betreiber der Gocart-Bahn zum Beispiel bastelt an einer Idee, die knatterigen Benzin-Motoren leiser zu machen. Und denke ja keiner, daß gebrannte Mandeln gleich gebrannte Mandeln sind. „Heute sind das nicht mehr so harte Eier wie früher“, beteuert Zuckerbudenbetreiberin Christina Schwarz, konfrontiert mit der Geschichte eines nach kraftvollem Zubeißen unter Schmerzen verlorenen Milchzahns. Ein Kilo Mandeln koste 16 Mark, das Kilo Zucker nur 1,20. Wer auf seine Zuckerbudenbetreiberehre halte, tue heute weniger Zucker an die Mandel.
Auch sonst, so Schwarz, gehe der Trend weg von Haribo-Weingummi-Produkten hin zu selbstgemachten kleinen Leckereien wie Salmi-Lollies, Rumkugeln und Kräuterbonbons. Auch Zucker-stangen, Liebesäpfel und vor allem Popcorn in allen erdenklichen Variationen seien gefragt. Völloig out seien dagegen Lebkuchenherzen und Schokobananen. „Das liegt an der EG-Banane. Die Leute sind total verunsichert“, sagt die 29jährige Schaustellerin, die für den Familienbetrieb die eigene Marktforschung betreibt.
Während Christa Schwarz die Bude in Hamburg aufbaut, sind ihre Eltern noch mit einem anderen Stand auf dem Bremer Freimarkt vertreten. Viele kleinere Schausteller tanzen auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig, um bei effektivem Personaleinsatz die fest gebuchten Plätze zu nutzen. Je näher der Eröffnungs-Termin rückt, desto mehr der großen und teuren Geräte werden auch aufgebaut. Und je teurer und moderner, desto schneller der Aufbau. Der Geschäftsführer der „Schlittenfahrt“, Andreas Rolke, läßt sich diesmal zehn Tage Zeit, um die Berg-und-Tal-Bahn geruhsam aufzubauen. Wenn es sein muß, könne der Aufbau aber auch in zwölf Stunden vonstatten gehen, sagt Rolke. Das Dach zum Beispiel wird mit zwei hydraulischen Säulen komplett hochgefahren.
Die „Schlittenfahrt“ gehört zum Unternehmen von Oskar Bruch, der auch die Achterbahn betreibt. Der 28jährige Rolke ist Mann für alles. Schausteller, so sagt er, sei kein anerkannter Lehrberuf. Trotzdem müsse man viel können, mal Schlosser, mal Elektriker sein und schließlich beim Betrieb über Mikrophon den „Recomandeur“ spielen, „bißchen Fez machen, die Leute veräppeln“. Und die neuesten Hits aus den Charts auflegen.
Weniger turbulent geht's bei Emmy Vespermann zu. Seit 1950 baut sie dreimal im Jahr ganz geruhsam ein altes Kinderkarussell auf (Baujahr 1902), das ihr Mann geerbt hat und die Familie seither als Hobby betreibt. Den einen Tag wird die Orgel überholt, den zweiten Tag kleine Pinselarbeiten gemacht, und anderntags sich nur mit der Telekom herumgeärgert, die das versprochene Telefon nicht liefert.
Ein Foto von den antiken Holzpferdchen auf dem Karussell, das urspünglich noch mit richtigen Pferden angetrieben wurde, konnten wir leider nicht machen. Die Rollen zum Lüften der Plane waren noch nicht montiert, bei den vielen tausend Kleinigkeiten, die zu erledigen waren, hatte das noch ganz viel Zeit. Der Winter-Dom beginnt ja erst nächsten Freitag.
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