Wand und Boden: Es west ein bißchen
■ Kunst in Berlin jetzt: René Magritte, Anatolij Shuravlev, Joseph Beuys
Merkwürdig verschlungen sind manche Wege, die Wanderausstellungen einschlagen. Von Madrid ist eine Auswahl an Fotografien René Magrittes im kulturellen Austausch mit Belgien nach Berlin gereist. Freundlich dezentral zwischen dem Polizei-Abschnitt 15 und einem Kampfsportstudio gelegen, verstärkt die mit Pflastersteinen ausgelegte Otto- Nagel-Galerie des Bezirksamts Wedding den leicht verschobenen Blick, aus dem Magritte Fotomotive im Freundeskreis aufgeschnappt hat. Zu Beginn sieht man auf „L'Amour“ von 1928 den Künstler sanft mit dem Pinsel die Konturen seiner Ehefrau Georgette umfahren – sie im Badekostüm, er mit Filzpantoffeln.
Zielstrebig lichtet Magritte immer wieder banale Situationen ab, die er nachträglich mit Wortspielen auflädt. Sechs Frauen und ein Kind, die ihre Fäuste ballen, wurde schwergewichtig „Exécution capitale“ betitelt, vielleicht auch um die „Präsenz des Geistes“ zu untermauern, deren Abwesenheit in der Kunst er noch 25 Jahre nach dem Surrealismus beklagte. Dagegen scheinen die Bilder den Wortsinn eher zu parodieren. Freud zitierend treibt „L'invention du feu“ Schabernack mit dem Aufsatz zum prometheischen Ur-Mythos und zeigt drei Männer, die auf einem Sockel stehend stolz ihr Fahrrad präsentieren.
Auf zwei Fotografien ist es Magritte dann Ernst mit dem Bild und seiner Bedeutung – „La marchande d'oublie“ zeigt Georgette beim Sonnenbad mit der einzig wahren Pfeife im Hintergrund; und für „L'Oiseleur“ (1955) hat sich der vermeintliche Vogelfänger in einer Balkontür spiegelnd verdoppelt und so als Selbstportrait festgehalten.
„Die Verläßlichkeit der Bilder“, bis 4.12., Seestraße 49; Di-Fr 10-18 Uhr; Sa 12-16 Uhr
Anatolij Shuravlev spart sich die müßige Diskussion um die Kluft zwischen den Zeichen und arbeitet statt dessen mit der Lücke in der Wahrnehmung. Seine Foto- Installation „Attempt to see“ in der Bildertenne im Literaturforum des Brecht-Hauses versucht, den Prozeß des Sehens auf seine Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Erkennens-Code zu prüfen. In sechs weiße Holzpanäle von jeweils zwei Meter Höhe hat er in der Mitte kleine Sehschlitze gesägt, hinter denen einzelne Augen hervorlugen. Sie gehören zu Fotos, die Shuravlev auf dem Flohmarkt gefunden hat. Durch die Reduktion des Bildgegenstandes entsteht ein Wechselspiel von Blicken, bei dem die Grenze zwischen aktivem und passivem Sehen rasch erreicht ist. Dann verschwindet das Objekt in der Wahrnehmung. Doch unabhängig von aller unmittelbaren Kenntnisnahme wären die antiquierten Fotografien natürlich keine, hätten sie nicht eine Geschichte, zu der Shuravlev jedoch den Zugang verweigert.
Durch den Schlitz betrachtet kann man in der fremden Pupille hinter Glas nicht einmal das Geschlecht der Personen ausmachen, während der altertümliche Charakter des verwendeten Materials sofort augenscheinlich wird. Als Ausdruck einer vergangenen Zeit bleiben die Bilder imaginär. Ob nun Shuravlev damit tatsächlich auf „die Herkunft kultureller Archetypen“ eingeht, steht und fällt mit der Bereitschaft, in den Augenblick eine tiefergelagerte Ordnung hineinzulesen. Insofern schwingt selbst beim minimierten Sehmodell das Vertrauen in die bildnerische Erzählform mit.
Bis 27.11., Chausseestraße 125; Mo-Fr 9-24 Uhr, Sa/So 17-24 Uhr
Joseph Beuys hat die Paarbildung im Zusammenspiel von Bild und Text ausgeweitet und seiner Arbeit am erweiterten Kunstbegriff gemäß Stoffliches wie Begriffliches in der Unterscheidung verbunden: Fett und Filz werden zurSprache. Daß dieses Ansinnen zeitlebens von praktischen Unterweisungen begleitet und untermauert wurde, belegen vier Skizzenbücher, die bis zum 28.11. in der Akademie-Galerie im Marstall zu sehen sind.
Ähnlich wie bei Leonardo oder Dürer finden sich in den 4 Büchern aus: Projekt Westmensch 1958, an denen Beuys bis 1965 arbeitete, neben Kleinstkonstrukten auch Thesen zu Malerei und bildender Kunst. In Tagebuchform wurden alle Bände für bestimmte Schwerpunkte (etwa Physiologie, Seinsstruktur, Pneuma, Alchemie und Energie) angelegt und je nach dem Stand des Denkens aufgefrischt. Wo einmal Hirschfuss/Hand stand, sind dann Latten und gespreizte Leitern geworden, die das Verhältnis zwischen Winkeln und Stufen wiedergeben. Doch das Konvolut will über eine einfache Didaktik der Form hinaus: „Ich habe zeichnend eine neue Biographie entworfen, die ich 1958 beginnen lasse. Ich hatte damals schon die Ideen für das Soziale Kunstwerk, an denen ich immer noch arbeite“, zitiert der Katalog ein Interview aus dem Jahr 1980. So soll man in „Westmensch“ den Nukleus der modernen Kunst, den nachgereichten großen Wurf von Kunst=Kapital, die Entfaltung der Beuysschen Ideenlehre sehen. Mächtig, gewaltig und eben deutsch.
Auch die Ausstellung vermittelt den Eindruck, daß sich die Gewichtigkeit des Denkens einmal mehr in Bücherregalmetern messen läßt. Die Buchseiten zur Faksimile-Ausgabe wurden als Doppelblätter gerahmt und reihum an die Wände gehängt – vier Bücher füllen drei Museumsräume, weitere 714 leere Seiten wurden ausgespart. Andererseits stellt sich in dieser labyrinthischen Abfolge von verschachtelten Bleistiftzeichnungen, öldurchtränkten Deckblättern und seltsamen Textbrocken so etwas wie Nähe zum Werk ein. Jede Vielfalt lenkt die Aufmerksamkeit auf Details, anstatt über das Erhabene zu reflektieren. Es west nur ein bißchen, wenn Beuys seine Skizzen zum Blutkreislauf mit gebärenden Frauen parallelisiert, deren Knie mit dem Heiligenschein des Denkens versehen sind. Manchmal überwiegen statt all der Ich- und Nicht-Ich-Entwürfe sogar Alltag und Humor gegenüber dem Wunsch, „in die Tiefe zu wühlen“. Dann tauchen in den ersten Jahren nach der Geburt von Sohn Wenzel sorgsame Ernährungspläne für den Kleinen oder fremdartige Kinderreime auf: „Hasenhans u(nd) Hasengretchen sass auf dem Ba(l)kon und nähtchen“. Direkt im Anschluß entwickelt Beuys wie im Assoziationsrausch die Idee von Bildkopf und Bewegkopf, zu deren Vermittelung er später eine Performance „Der bewegte Isolator“ 1969 in Antwerpen vollführte.
Marx-Engels-Platz 7; Di-So 10-19 Uhr; Mo 13-19 Uhr Harald Fricke
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