: Rollheimer Klassenkampf
Auf dem Marx-Engels-Forum protestieren seit Tagen Rollheimer der geräumten Wagenburg am Engelbecken / Unterstützung durch die Kirche ■ Von Jantje Hannover
Schon wieder müssen die Ahnherren des Kommunismus ihre Gesellschaftsanalyse neu überdenken: Wer hätte gedacht, daß nach dem Niedergang des Sozialismus die Verelendung der Massen erst richtig losgeht. Mit stoischem Blick nehmen die gußeisernen Figuren auf dem Marx-Engels-Platz das Lager der Mahnwache zur Kenntnis, das die Rollheimer des geräumten Engelbeckens seit dem 7.Oktober dort abhalten. Daß Marx eine schwarze Fahne in der Faust hält, während Genosse Engels ein Bettlaken mit der Aufschrift „I love Wagenburg“ um den Bauch trägt, tut ihrer Würde wenig Abbruch.
Auf dem runden gepflasterten Platz nahe dem Palast der Republik wurden die Wagenburgler am 13. Oktober von ihrem ursprünglichen Lager direkt vor dem Rathaus umgesiedelt. Die Bäume ringsherum schützen den Schandfleck vor der reinen Weste der Stadtväter hier besser als vor erschrockenen Passantenblicken. Die wichtigsten Forderungen der Mahnwache: Einstellung aller Ermittlungsverfahren, Schadenersatz für das bei der Räumung zerstörte Eigentum und einen Stellplatz in der Innenstadt statt der Abschiebung nach Karow.
Bei knapp fünf Grad liegt das Lager etwas verwaist in der Novembersonne. Kerstin lehnt verfroren an dem Bock vor dem großen Holzstoß und müht sich vergeblich, die Ärmel ihrer Stoffjacke über die bloßen Hände zu ziehen. „Die sind gerade duschen“, erklärt sie die Abwesenheit der restlichen Belegschaft. Plötzlich gesellt sich eine Passantin dazu und überreicht eine Plastiktüte mit einer Felljacke. „Ich krieg' selbst nur ein paar Pfennig Stütze“, kommentiert sie die gute Gabe und agitiert auch noch ein bißchen: „Das geht doch nicht an, daß die Ausländer Wohnungen kriegen, während unsere Leute auf der Straße sitzen.“
Die unfreiwilligen Bewohner des Karl-Marx-Forums leben unter freiem Himmel. Ein Antrag ihres Anwalts Stefan Nowak, hier Zelte oder einen Holzverschlag aufzustellen und eine Suppenküche für Obdachlose einrichten zu dürfen, wurde vom Verwaltungsgericht am 28. Oktober abgewiesen. Eine Bauplane über dem auf Paletten gebauten Matratzenlager, das rund zehn Leuten als Schlafplatz dient, ist der einzige Schutz vor Regen. Im Moment tummeln sich hier nur die großen Hunde der Rollheimer. Ein Stapel Wolldecken und ein paar Reisetaschen liegen gleich daneben, die abgesägte Blechtonne mit darübergelegtem Rost dient als Feuerstelle. Einmal täglich liefert eine Suppenküche aus Pankow gratis ein warmes Essen.
Langsam kommt Leben in die nicht vorhandene Bude. Ein Feuerchen wird angezündet und eine Dose Linseneintopf auf dem Rost plaziert. Zehn Leute zwischen 13 und 55 sitzen auf den Bänken um die Feuerstelle, um sich den Anflug von Wärme aus der Blechtonne nicht entgehen zu lassen. „Wir werden hier am Tag fünfzigmal fotografiert“, sagt Christian nicht ohne Stolz, als eine Passantin zehn Mark überreicht und daraufhin die Kamera zückt. Das Geld wird in einer Büchse für die Prozeßkosten gesammelt. Der vollbärtige Mittvierziger hat selbst noch eine Wohnung am Kotti, die er zum Duschen zur Verfügung stellt.
Von der jüngsten Entscheidung des Verwaltungsgerichts weiß hier bislang keiner was. „Wenn wir Glück haben, erfahren wir aus der Presse, was die aus dem Rathaus mit uns vorhaben.“ Auf dem Platz direkt vor ihrer Haustür haben sich die Verantwortlichen jedenfalls noch nie blicken lassen. „Am Samstag war hier die Hölle los“, berichtet Herbert, der schon seit über zwei Jahren auf der Straße lebt und die Wagenburgler erst hier kennengelernt hat. Ein Künstler wollte ein zwei Meter hohes Holzgerüst mit Glocken aufstellen, eine Art überdimensionales Musikinstrument. „Gleich hatten wir eine Hundertschaft am Hals“, sagt Herbert, denn die Polizei betrachtete das als nicht genehmigte Überdachung. Die spontan organisierte Demo führte bis vor das Wohnhaus des Bezirksbürgermeisters von Mitte, Stephan Keil (SPD). Als der auf Klingeln nicht reagierte, zückte Schwester Maria das Megaphon – und wurde mit fünf weiteren Demonstrationsteilnehmerinnen vorläufig festgenommen. Die Ordensschwester von den „Geschwistern am Rande“ war maßgeblich am 16tägigen Hungerstreik der nun Obachlosen beteiligt gewesen.
Die Ostberliner sind den Anblick der Rollheimer offenbar nicht gewöhnt. Einige bringen Essen und Kleidung vorbei. Logistische Unterstützung dagegen kam bisher vor allem von kirchlicher Seite. Die katholische St.-Michaels-Gemeinde aus Kreuzberg beispielsweise hatte die Wagenburgler schon lange bei Behördengängen unterstützt und mit Wasser versorgt. Pfarrsekretärin Birgit Krause kommentiert die aktuellen Pläne des Bezirksamts für das Engelbecken: „Ich finde das unmöglich, daß Menschen vertrieben werden, um einen Sportplatz zu bauen!“ Zumal das über zwei Millionen schwere Projekt in weniger als drei Jahren dem Wohnungsbau weichen muß. Und das in den Zeiten von Rotstift und Sparpaket.
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