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„Die Haftverschonung ist ein Unding“

■ Vorwürfe an die Polizei: Der Tod des dreizehnjährigen Mädchens, das am Mittwoch von seinem Vater erschossen wurde, hätte verhindert werden können

Am Mittwoch erschoß ein Vater seine 13jährige Tochter, die ihn wegen sexuellen Mißbrauchs angezeigt hatte, auf offener Straße. Anschließend erschoß er sich. Die Rechtsanwältinnen Doris Dreher, die seit vielen Jahren fürs Frauenhaus arbeitet, und Sonja Schlecht, die mit „Wildwasser“ zusammenarbeitet, zu Schutzmöglichkeiten sexuell mißbrauchter Mädchen.

taz: Hätte der Mord verhindert werden können?

Doris Dreher/Sonja Schlecht: Es mußte einfach damit gerechnet werden, daß der Täter die Anschuldigung des sexuellen Mißbrauchs durch die Tochter nicht so einfach hinnimmt. Wenn gegen den Täter Haftbefehl erlassen worden ist, muß da einiges vorgefallen sein. Die Haftverschonung ist ein Unding.

Sind Auflagen für die Täter, wie Zutrittsverbot zur Wohnung, ein ausreichender Schutz?

Das ist für ein minderjähriges Mädchen überhaupt kein Schutz. Es müßte ständig ein Polizist vor der Tür stehen, um das Zutrittsverbot zu kontrollieren.

Was wäre zu tun gewesen?

Untersuchungshaft für den Täter, Unterbringung des Mädchens in einer Zufluchtswohnung. Es ist jedoch haarsträubend, daß das ohnehin schon geschädigte Mädchen von zu Hause weg und sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden muß. Außerdem gibt es viel zu wenig Zufluchtswohnungen in der Stadt, und die sind hoffnungslos überlastet.

Es gibt ja Gesetze zum Schutz der Opfer. Wenn das Opfer, das Anzeige erstattet hat, vom Täter bedroht wird, ist das ein Grund für Untersuchungshaft. Aber die daran gestellten Maßstäbe sind ziemlich hoch, und demzufolge wird von der U-Haft nicht in allen Fällen Gebrauch gemacht. Ich habe zum Beispiel in einem Fall vor ungefähr einem Jahr angeregt, daß ein Täter, der das im gleichen Haus wohnende Opfer mehrmals belästigt hat und bereits wegen Kindesmißbrauch rechtskräftig verurteilt worden war, in U-Haft genommen wird.

Die Staatsanwaltschaft dagegen betrachtete den Vorwurf als geringfügig und U-Haft als unverhältnismäßig. Es ist ein Unding, daß das Mädchen jeden Tag an seiner Tür vorbei muß. Das Verfahren wurde dann auch gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt.

Brauchen wir neue Gesetze?

Das ist gar nicht notwendig. Das Problem ist die Auslegung der Vorschriften. Auflagen sollen den Täter in erster Linie einschüchtern. Wirklich verhindern tun sie einen Übergriff aber nicht. Untersuchungshaft oder Folgenschutz für das Opfer wären wirksamer. Die Anforderungen an den Folgenschutz sind aber unheimlich hoch. Die greifen eigentlich nur bei Organisierter Kriminalität.

Versagt die Justiz?

Die Staatsanwaltschaft reagiert oft erst dann, wenn wieder etwas passiert, wenn es also zu spät ist. Die Justiz nimmt den sexuellen Mißbrauch nicht ernst genug. Wir sehen das ja in den Strafverfahren. Die Strafen sind im Verhältnis zu den Taten verhältnismäßig gering. Das ist ein Skandal. Die Täter einfach in den Knast zu bringen, macht es aber auch nicht besser. Gespräch: Barbara Bollwahn

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