Sanssouci: Nachschlag
■ Ausgrabungen I
Mit über 100 Stundenkilometern rast der Zug dahin. Ein abenteuerliches Tempo für jene Zeit Anfang des Jahrhunderts, die angeblich dem Geschwindigkeitsrausch, dem Gründerrausch, dem Erfinderrausch verfallen war. Dabei ist es kein silbrig glitzernder schneller Pfeil, der lautlos durch die Landschaft fährt wie heute die Höchstgeschwindigkeitszüge à la TGV, sondern ein qualmendes, funkenstiebendes schwarzes Monster: „Die rasende Lokomotive“ („Szalona Lokomotywa“) von Stanislaw Ignacy Witkiewicz, der sich Witkacy nannte, entstanden im Jahr 1923. Das Zan Pollo Theater hat dieses selten gespielte Stück – mehr Farce als Drama – des bedeutenden polnischen Dramatikers ausgegraben und lautmalerisch wie lautstark inszeniert.
Die Musikmaschinerie – Schlaginstrumente und Saxophon – des Orchestra Obscur bestimmt den Rhythmus der Inszenierung, ein verbal-musikalischer Schlagabtausch zwischen der Mannschaft auf der Lokomotive und den Rhythmustreibern. Gerade zu Beginn gerät die Fahrt trotz lautstarken Geratters auf eintönige Gleise: Monotonie der Steppe, die sich auch durch die philosophischen Höhenflüge der Herren auf der Maschine nicht gerade rasant und elegant durchqueren läßt. Sie plaudern und streiten über Kunst und die Frauen, geben sich schließlich beide als Gauner und Betrüger zu erkennen. Die ungeliebte Ehefrau des Lokomotivführers wird kurzerhand über Bord geschmissen, die gemeinsame Geliebte behalten.
Witkiewicz gilt als Vorläufer des absurden Theaters, er schrieb an einer „Theorie der reinen Form“ und gründete das „Formistische Theater“, das mit der narrativen Form und den Gesetzen der Psychologie aufräumen sollte. Die rasende Lokomotive steht bei ihm als Metapher für eine immer schneller, immer verrückter, immer bewußtloser agierende Gesellschaft, die sich nur durch Rituale der Grausamkeit ihrer selbst gewahr wird. Dazu zählen natürlich auch die Rituale der Männlichkeit, wie sie der Heizer und der Lokomotivführer vorführen. Nur das Verbrechen zählt: Die beiden beschließen, katastrophengeil, im nächsten Bahnhof nicht anzuhalten, und rasen damit unweigerlich auf einen entgegenkommenden Zug zu. Immer rasanter, immer grotesker (und auch immer flotter in der Inszenierung) gerät die Fahrt, bis es zum großen Zusammenstoß kommt. Die Gliedmaßen fliegen durch die Gegend, und die Gedärme quillen aus den Mägen, und wie in der Oper dürfen die Sterbenden noch etwas sagen, was alles komisch und keineswegs tragisch wirkt.
Der Regisseurin Ilona Zarypow vom Zan Pollo Theater ist es mit Hilfe der Musiker und trotz schauspielerischer Schwächen gelungen, das Stück auf überzeugende Weise zu komponieren. In seinen Dramen konnte Witkiewicz seine düsteren Visionen ins Komische wenden. Die Wirklichkeit dagegen ließ ihn im Stich: Auf der Flucht vor der deutschen und sowjetischen Armee nahm er sich im September 1939 das Leben. Sabine Seifert
„Die rasende Lokomotive“ von S.I. Witkiewicz. Weitere Aufführungen vom 12.–14., 16.–21.11, dann wieder 25.12. bis 2.1. Zan Pollo Theater im Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg.
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