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■ Scharping zähmt die SozialdemokratieMachtgewinn ist Pflicht

Der Prozeß der Zähmung ist in vollem Gange. Nicht, daß Rudolf Scharping die Genossen schon voll im Griff hätte, aber gut vier Monate im Amt, tickt die Partei bereits nach dem Rhythmus des Neuen. Die Desorientierung und der Dauerstreit sind passé. An die Zeiten des institutionalisierten Konflikts erinnert in Wiesbaden nur, daß Scharping die brisanten, von seinem Vorgänger hinterlassenen Streitfälle schnell noch vom Tisch räumen ließ. Es wird schon noch debattiert, doch die Auseinandersetzung hat etwas von Simulation. Bei keinem der verhandelten Punkte – vom Lauschangriff bis zu den Blauhelmen – schien auch nur denkbar, daß einer gegen den Willen des Vorsitzenden entschieden würde.

Auch die Spekulationen über die Fronde der geschlagenen Konkurrenten haben sich auf dem Parteitag weiter verflüchtigt. Allen möglichen Widersachern hat Scharping gezeigt, wie perfekt er sich auf Machtpolitik versteht. Er wechselt die Bündnispartner, keiner, der ihn heute stützt, kann morgen sicher sein, nicht selbst in die Defensive gedrängt zu werden. Gemeinsam mit Lafontaine kanzelte er Schröder wegen dessen Atomkurs ab, mit beiden zusammen ließ er Klose auflaufen, als der für eine Öffnung in der Bundeswehrdebatte plädierte, und alle nötigten Lafontaine zum Rückzug in Sachen Ost-Tarife. Scharping beherrscht den bieder-konfirmandenhaften Gestus. Das erleichtert ihm den Einsatz der Mittel, die man seinen vermeintlichen Widersachern – Schröder und Lafontaine – schon immer zugetraut hat.

Die radikale Veränderung des Führungsstils ist kein isoliertes Projekt. Wie in Scharpings Weltsicht Streit und Debatte eng mit oppositioneller Folgenlosigkeit assoziiert werden, geraten auch die Themen, denen sich die SPD seit dem Bonner Machtverlust öffnete, ins Abseits. Ökologie gerät zum Unterpunkt bei der technologischen Modernisierung, Rechtsradikalismus verweist auf Versäumnisse der Arbeitsmarktpolitik, Immigranten und Frauen kommen gar nicht erst vor. Verheugens Diktum, die SPD könne die Rolle der gesellschaftlichen Avantgarde nicht spielen, ist unstrittig. Doch daß bei Scharping „Gesellschaft“ nur noch als Ansammlung von Arbeitnehmern vorkommt, das klingt schon wie die Ankündigung einer neuen Hermetik der Genossen. In seinem „Reformbündnis“ jedenfalls stehen die Betriebsräte ganz vorn, „Künstler und viele andere“ ganz hinten. Die Regenbogenträume sind passé, die SPD orientiert sich wieder an ihrer angestammten Klientel. Der präsentiert sie sich, wie seit den Zeiten des Kanzlers Schmidt nicht mehr, als „Schutzmacht des kleinen Mannes“.

Doch der Paradigmenwechsel wäre mit Macht und Taktik allein schwerlich durchzusetzen. Scharping überzeugt seine Genossen, indem er ihre tiefe Frustration über die Hinterlassenschaft des Vorgängers mit einem scharfen Gegenentwurf in Zustimmung verwandelt. Engholms Programm war kaum mehr als die Summierung alles Schönen und Guten – gut gemeint, aber diffus. Scharping geht den umgekehrten Weg. Er konzentriert die Kräfte, die Partei wird kenntlich, dafür opfert sie, was im Interesse des Machtgewinns verzichtbar erscheint. An Entschlossenheit zum Regieren, auch da wirkt Scharping wie das Gegenbild zu Engholm, ist der Spitzenmann kaum zu überbieten. Doch das Unbehagen der Partei an ihrem neuen, neugrauen Profil wird sich nur so lange unterdrücken lassen, wie das Projekt Erfolg verspricht. An ihn, da kennen die Sozialdemokraten nichts, werden sie glauben wie seinerzeit an Engholm. Für die in Aussicht gestellte Fortsetzung Kohls unter eigenem Signet sind die Sozialdemokraten zu Opfern bereit. Doch wegen dieser Zumutung steht Scharpings Roßkur unter einem klaren Vorbehalt: Machtgewinn ist Pflicht. Matthias Geis

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