■ Stadtmitte: Modell VW kann nur der Anfang sein
Mit ihrem Vorstoß zur Viertagewoche hat die Volkswagen AG die gesellschaftliche Diskussion über Arbeitszeitverkürzung neu entfacht. Die angesichts einer Massenarbeitslosigkeit von 3,5 Millionen zynische Forderung der Bonner Regierungskoalition und der Arbeitgeber nach Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ist mit einem Schlag vom Tisch. Eingefahrene Positionen geraten endlich in Bewegung.
Klar ist, daß es sich bei der Massenarbeitslosigkeit nicht um eine krisenhafte Übergangsphase handelt. Wirtschaftliche Rezession und strukturelle Schwächen auch in der westdeutschen Wirtschaft und die zu beobachtende Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung sind die tiefgreifenden Ursachen für eine Beschäftigungskrise, die Deutschland weit über die Jahrtausendwende hinweg begleiten wird. Es ist höchste Zeit für einen gesamtgesellschaftlichen Beschäftigungspakt, der mit Tabus bricht und altes Besitzstandsdenken hinter sich läßt. Nur so kann verhindert werden, daß weiterhin Deutschlands Standortfaktor Nummer 1 – nämlich der soziale Frieden – aufs Spiel gesetzt wird.
Auch wenn das Problem nicht auf die arbeitszeitpolitische Komponente verkürzt werden kann, steht fest, daß wir den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht ohne eine gerechtere Verteilung des knapp gewordenen Guts Arbeit gewinnen können. VW hat hier ein wichtiges Signal gesetzt. Eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich ist allemal sozial verträglicher und gesamtwirtschaftlich sinnvoller als Beschäftigungsabbau und Arbeitslosigkeit. Aber nicht alle sind in der Lage, einen zusätzlich freien Tag mit Lohneinbußen zu bezahlen. Hier ist der Staat in der Pflicht, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, daß der Lohnausfall durch Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ausgeglichen werden kann.
Eines ist jedoch klar: Mit dem VW-Modell wird kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen. Um die Beschäftigungskrise in den Griff zu bekommen, ist ein ganzes Maßnahmepaket vonnöten. Dabei müssen wirtschaftspolitische Maßnahmen eng mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik verknüpft werden. Aber auch intelligente Modelle zur Umverteilung der Arbeit müssen fester Bestandteil dieses Pakets sein. So ist es an der Zeit, daß Benachteiligungen in der Entlohnung und Altersversorgung bei Teilzeitarbeit, denen immer noch größtenteils Frauen ausgesetzt sind, abgebaut werden. Auch sollte jetzt die Chance genutzt werden, durch Arbeitsflexibilisierung individuellen Bedürfnissen und Lebensrhythmen gerecht zu werden.
Wer eine längere Berufspause einlegen will, sei es, um sich der Familie zu widmen, sei es, um eine Weiterbildung zu absolvieren, dem sollte dies durch die Bundesanstalt für Arbeit ermöglicht werden. Qualifizierung ist ein wichtiger Wettbewerbsfaktor, sowohl für den Standort Deutschland als auch für den einzelnen. Beschäftigungswirksame Berufspausen in Verbindung mit Maßnahmen der Weiterbildung zu finanzieren, wäre eine lohnende Investition. Der Handlungsdruck für Politik und Wirtschaft ist groß. Der erste Schritt muß das Schaffen gesetzlicher Rahmenbedingungen sein. Eine grundlegende Reform des nicht mehr zeitgemäßen Arbeitsförderungsgesetzes ist längst überfällig. Dr. Christine Bergmann/SPD
Senatorin für Arbeit und Frauen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen