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Durch die wilde Kordillere

Von der argentinischen Provinz Mendoza nach Chile: Die Überquerung der südamerikanischen Anden zu Pferd ist eine ziemliche Strapaze. San Martin, der Befreier des südlichen Südamerikas, nahm 1817 die gleiche Route  ■ Von Miriam Lang

Der letzte Posten der argentinischen Grenzpolizei vor dem Niemandsland. Raus aus dem Bus. Paßkontrolle. Draußen steht neben dem Betonflachbau ein gesatteltes Pferd, angebunden im Schatten einer einzigen Pappel. Nacho, unser junger Begleiter, verhandelt kurz mit den beiden Uniformierten – sie kennen sich bereits. Die Handvoll Leute, die übers Jahr auf diesem Schotterweg weiter in die Berge wollen, auseinanderzuhalten ist nicnt schwer.

Wir sind in der argentinischen Provinz Mendoza. Vor allem der Produktion von hervorragendem Wein verdankt sie heute ihren Ruf. Lange Zypressen- und Pappelreihen schützen Weinberge, Aprikosen- und Pfirsichplantagen gegen den Wind, tiefblaue, laue Luft duftet nach Wiesenkräutern, Zikaden zersägen die Stille. Doch kurz hinter dieser Oase rund um die gleichnamige Provinzhauptstadt Mendoza beginnt die Wüste. Ausgedörrtes Flachland, wo nicht mal die klischeehaften Rinderherden der Pampa Nahrung finden. Nur fünf Prozent der Bodens sind in diesem Teil des Gaucho-Landes bewirtschaftet. Bewässerungsanlagen sind teuer, und Platz gibt es verschwenderisch viel.

Den Horizont nach Westen bildet die Kordillere der Anden, die wir – zu Pferd – bis nach Chile durchqueren wollen. Der Weg führt zunächst durch ein spärlich bewachsenes, gelblich-dürres Vorgebirge. Wo dieses in imposantere Bergformationen übergeht, fällt auf, wie weich und rund die Konturen auch der hohen Gipfel bleiben. Geradezu wollüstig hat sich die Erde hier zurechtgelegt.

Zwei Stunden nach dem Halt an der Grenzstation steigen wir in einem Flußtal aus. Menschenvergessene Einsamkeit. Nach dem Entladen von ein paar Säcken und Kisten verabschieden wir mit dem Bus unsere letzte Anbindung an die Zivilisation. Noch etwa hundert Kilometer zur chilenischen Grenze.

Aber der Schein trügt: unberührte Natur ist das hier nicht. In diesen Bergen wurde die Geschichte eines Kontinents ausgefochten. Im Januar 1817 begann General San Martin, der Befreier des gesamten südlichen Südamerikas von der spanischen Kolonialherrschaft, die Durchquerung der Anden von Mendoza nach Chile. Mit 5.000 sorgfältig ausgewählten Soldaten, Pferden und Maultieren unternahm der argentinische Nationalheld die gewagteste Militärexpedition seit Hannibals Elefantenheer. Sein strategisches Ziel war es, der königstreuen Armee, die im Norden Argentiniens siegreich geblieben war, von den Bergen aus in den Rücken zu fallen, um dann weiter Richtung Norden bis nach Lima vorzustoßen.

Wir wollen zehn Tage lang den Spuren des Libertador folgen. Das Errichten des Nachtlagers wird bald zur Routine: Holz suchen, Feuer machen, Schlafstatt bauen, solange es noch hell ist – und Essen kochen. Brennholz? Das ist in gut 3.500 Metern Höhe, wo nicht einmal größere Sträucher wachsen, ein schlechter Witz. Dürre Wurzeln oder ab und zu ein Ast, den der Fluß aus dem Nirgendwo angeschwemmt hat. Zur Not auch trockener Kuhmist. Feuer ist unentbehrlich, um dem abendlichen Kälteeinbruch standzuhalten. Wir schlafen in Schlafsäcken, jeweils zu fünft unter einer Plastikplane, die den Frost abhalten soll.

Am nächsten Morgen. Baqueanos, eine Art einheimischer Viehhirten, die den Sommer in den Bergen verbringen, fangen die Pferde einzeln mit dem Lasso ein. Die Methoden entsprechen den Umständen: einen Weidezaun haben diese halbwilden Tiere noch nie gesehen. Sie laufen frei durch Berge und Täler, identifiziert nur anhand von Brandzeichen. Die Baqueanos suchen sie manchmal tagelang.

Im Lagerfeuerkaffee schwimmt Flugasche, und das Toastbrot verbrennt über der Glut noch scheller als zu Hause im ewig verklemmten Toaster. Cowboyfrühstück im Marlboro Country. Fachgerecht beladen die Baqueanos die beiden Maultiere, so daß beide Seiten gleich schwer sind, und zurren alles gut fest. Wir machen uns auf den Weg.

Während der sechs bis acht Stunden, die wir täglich zu Pferd verbringen, wird mir immer klarer, daß diese berauschend großartige Landschaft in keinem Werbespot einzufangen ist. Von einem Tal zum nächsten wechselt plötzlich die Kulisse.

Zunächst ist alles grün, die Berge erscheinen als riesenhafte weiche Moospolster. Der Cerro Campanario am Horizont, mit 4.049 Metern der höchste Gipfel der Region, hat in seiner schwarzweißen, zerklüfteten Schroffheit etwas Alpenhaftes, Europäisches. Doch dann – Filmriß. Wir gelangen in ein Panorama, das eher der nordafrikanischen Sahara als unserem Bild von den Anden gleicht. Großzügige Rundungen aus hellem Sand breiten sich unter einer Sonne aus, die uns ohne die breitkrempigen Hüte aus dem Sattel schlagen würde. Sand, nur Sand, endlos. In manchen Niederungen liegen noch Flecken alten Schnees, die, wo sie bereits abgeschmolzen sind, kreisförmige Verfärbungen hinterlassen. In gleißenden Silberfäden schlängelt sich das Schmelzwasser talabwärts, ein wenig tiefer bereits gesäumt von zartem, hellgrünem Gras.

Die Pferde sinken hier bis weit über die Fesseln ein. Zäh zieht sich die Karawane in von Nacho vorgezeichneten Zickzacklinien hangauf, hangab. Insgeheim bewundere ich diese etwas ruppig aussehenden Pferde: keines unserer wertvollen europäischen Zuchtprodukte würde diese Strapaze durchhalten. Pferde sind hier kein Luxus zum Zeitvertreib wie in Deutschland oder auch auf den Haziendas rund um Buenos Aires; sie sind Gebrauchsgegenstände in einer rauhen Welt, wo es normalerweise nur Männer gibt.

Nacho, der gerade mal 23jährige Organisator dieser Expedition, entstammt einer der bedeutenden Großgrundbesitzerfamilien Argentiniens. Sie handeln mit Fleisch, Getreide und Wein und haben letztes Jahr einen Bruchteil ihrer Ländereien verkauft: 70.000 Hektar. Zu Nachos Vorfahren zählt auch Victoria Ocampo, die bekannteste Kulturmäzenin und weibliche Literatin des Landes. Gente de apellido, Leute mit Nachnamen, heißen die Abkömmlinge dieser traditionsreichen Dynastien.

Das krasse Gegenstück dazu sind die drei Baqueanos Bernardo, Carlos und Martin. Das Leben in den Bergen hat sie ähnlich scheu gemacht wie die Pferde, die sie uns gegen viel zuwenig Geld zur Verfügung stellen. Nach der Weidesaison tauschen sie die winzigen Lehmhütten, die oft mehrere Tagesritte von der nächsten Lebensmittelstation entfernt sind, gegen andere Lehmhütten ein, nur diesmal im Flachland. Das Gros unserer Reitergruppe, aufstrebende Mittelklasse aus dem vornehmen Teil der Hauptstadt, macht sich gerne etwas lustig über diese Quasi-Analphabeten, die für sie hier draußen die Pferde versorgen und den unangenehmeren Teil der Arbeiten verrichten. Die meisten der Gruppe, Rechtsanwälte, Versicherungskaufleute oder Ehefrauen, die Bedienstete und das Repräsentieren gewohnt sind, sind in diese Wildnis gekommen, um die Hektik und den Zwang ihres vom Geld strukturierten Alltags zu vergessen, um gute Luft und Natur zu atmen; um sich einen spannenden Abenteuerstreifen reinzuziehen – live.

An diesem Nachmittag scheint uns die Route durch Colorado, USA, zu führen. Beinahe künstlich erscheinende Türme und Plateaus aus rötlichem Fels steigen aus dem Sand gegen einen blaustrahlenden Himmel auf. Am Abend beginnt der Sturm. Sand zwischen den Zähnen, Sand in den Augen trotz Sonnenbrille, sitzen wir schweigsam und vermummt in unseren Sätteln. Ein bißchen Masochismus gehört schon dazu, brülle ich zu der Frau, die hinter mir reitet. Wir galoppieren ein Stück, um uns aufzuwärmen. Der Abstieg ins Tal führt durch einen extrem steilen Engpaß unter einem Felsentor hindurch. Die Maultiere stemmen sich gegen die Last, bleiben immer wieder stehen, grunzen vor Anstrengung. Zwei Frauen aus der Gruppe haben Höhenangst. Sie bestehen darauf, zu Fuß zu gehen, was jedoch noch gefährlicher ist. Wir brauchen Stunden. Nacho setzt seine letzten Nerven ein, um alle zu beruhigen, zu ermutigen.

Abends brutzeln zwei frischgeschlachtete Zicklein über dem Feuer, und wir reichen uns die faustgroße Kürbisschale mit dem heißen, bittersüßen Mate. Mit klarer Stimme singt Nacho zur Gitarre Lieder von Gauchos, die ihre Geliebten im fernen Chile lassen mußten ...

Träume vom Libertador San Martin. Wie eine dunkle, schwerfällige Lavamasse wälzt sich sein Heer durch diese Berge. Waffen, die in der Sonne aufblitzen, Maultiere, die schwere Kanonen ziehen. Solche Baqueanos wie unsere drei, genauso bescheiden und von der Geschichtsschreibung übergangen, dienen als Führer, Späher, Männer für besondere Aufgaben. Ohne sie hätte der große General damals nicht mal das Schlachtfeld erreicht.

Auch schwarze Soldaten sind dabei: ehemalige Sklaven, die San Martin freigekauft hat, damit sie für die Unabhängigkeit ihr Leben wagen. „Frei oder tot – versklavt niemals“ hat er sich zur eigenen Losung gemacht. Dieser Mann, der sich in Spanien militärisch ausbilden ließ, um dieses Können dann im Freiheitskampf gegen seine Lehrer einzusetzen, ist nicht nur militärisch die Antithese zu Eroberern wie Hernán Cortés oder Cristóbal Colón.

Diese hatten nur Augen für Gold und materielle Güter. Sie verkannten die Menschen, auf die sie trafen, als Tiere, „kulturlos“, weil nackt, oder „gottlos“, weil andersgläubig – jedenfalls nicht wert zu leben. San Martin dagegen verzichtete sein Leben lang auf die Hälfte seines Solds und lehnte Beförderungen, Gouverneursposten und militärische Ehren ab. Die Abschaffung der schwarzen Sklaverei und der indianischen Frondienste bezeichnete der lateinamerikanische Idealist 1821 als „heiligste Aufgabe, angesichts dessen, daß es ein Angriff auf Natur und Freiheit ist, einen Bürger dazu zu zwingen, sich unentgeltlich einem anderen zur Verfügung zu stellen“.

Die Grenze nach Chile. Rote Metallpfosten, auf denen ein doppelseitig beschriftetes Schild angebracht ist. Nacho erklärt uns, daß die Grenzziehung der Scheidelinie des Schmelzwassers folgt, je nachdem, ob es in den Pazifik oder in den Atlantik mündet. Das ist jedoch allenfalls eine Zwischenbilanz, denn der Grenzkonflikt zwischen Argentinien und Chile flackert alle paar Jahre neu auf.

Als wir über die Bergkuppe reiten, liegt vor uns ein azurblauer See, dessen Ränder türkis leuchten – die Laguna Curilauna. Weit oben über den schneebedeckten Gipfeln rundherum zieht ein Kondor seine Kreise. Das Wasser blinkt kristallen in der Sonne und lockt uns zum Bad. Der schneidende Eiswind sorgt jedoch dafür, daß das Phantasie bleibt. Hilflos klicken die Kameras in die Unendlichkeit dieser Natur.

Ein paar Tage später im Hotel. Dampfendes Duschwasser prasselt auf mich nieder, und der Staub der Kordillere, der Geruch nach Pferden und Geräuchertem verschwinden im Abfluß. Doch die Muskelschmerzen und Scheuerstellen an den Oberschenkel-Innenseiten sind bleibende Erinnerungen an die Strapaze im Sattel.

Ähnliche Expeditionen werden jedes Jahr in den Monaten Januar, Februar, März durchgeführt. Grundkenntnisse im Reiten und eine gesunde körperliche Verfassung sind notwendig. Informationen am besten auf englisch bei: Ignacio Aldao, Vicente López 1749 50, 1018 Capital Federal, Buenos Aires, Argentinien.

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