■ Nebensachen aus Rio: Versteckte Freunde
Rio de Janeiro (taz) – Es weihnachtet sehr an der Copacabana. Pünktlich zur Adventszeit tauchen am Zuckerhut scharenweise ungewöhnlich großzügige und spendenfreudige Brasilianer auf. Die amigo ocultos, die versteckten Freunde, verzaubern das chaotische Stadtklima Rios.
Sie sind überall, sammeln auf Zetteln die Namen ihrer Kollegen, Freunde oder auch nur flüchtiger Bekannter und Umstehender. Im Sportverein, im Büro, auf der Baustelle, ja sogar an der Bushaltestelle rascheln sie mit einer Plastiktüte voller Papierschnipsel und ermuntern die umstehenden Cariocas, wie sich die Einwohner Rios nennen, dazu, das große Los zu ziehen. Wer sich auf das Spielchen einläßt, muß in die Tasche greifen: Jeder Teilnehmer verpflichtet sich, dem auf dem Papierschnipsel vermerkten „Kollegen“ mit einem kleinen Geschenk zu erfreuen.
Widerstand gegen den brasilianischen Julklapp ist vollkommen zwecklos. Je weniger sich die versteckten Freunde kennen, desto größer ist merkwürdigerweise der Anreiz, untereinander Nettigkeiten auszutauschen. Käme in Berlin einer auf die Idee, seinem Gegenüber in der U-Bahn, den er das ganze Jahr über nicht ein einziges Mal gegrüßt hat, etwas zu Weihnachten zu schenken?
Was verbindet also die Cariocas, die sich frühmorgens im überfüllten Bus zur Arbeit quälen, miteinander? Ist es der gemeinsame Schweiß bei 40 Grad Sommerhitze im Verkehrsstau? Oder gar die unangenehme Erfahrung, schon vor dem Frühstück eventuell überfallen zu werden?
Wie dem auch sei, die versteckten Freunde schaffen es, einen Haufen unbekannter Leute dazu zu bringen, sich gegenseitig mit kleinen Präsenten zu überhäufen. Und: Die Geschenkfeier findet nicht etwa im Bus, sondern in der nächstbesten Kneipe statt. Wer dem Charme der versteckten Freunde, zumeist weiblichen Geschlechts, erliegt, könnte meinen, ganz Rio läge sich in der Vorweihnachtszeit in den Armen. Zum Glück gibt es auch in Brasilien ein 13. Monatsgehalt. Wie könnten sich sonst die Cariocas ihre vielen versteckten Freunde leisten?
Der verführerische Zauber umgibt den Zuckerhut nur für ein paar Nächte. Bereits am ersten Werktag im neuen Jahr haben sich die versteckten Freunde wieder in Luft aufgelöst. Die Anonymität der Großstadt breitet sich erneut aus. Statt sich mit Geschenken aneinander anzunähern, halten sich zum Frühaufstehen verdonnerte Cariocas ihre Nachbarn im Bus mit Walkman und Zeitung vom Leibe. Es hat sich sowieso schon wieder alles geändert. Wer es länger als ein Jahr an ein und demselben Arbeitsplatz in Rio aushält, gilt bereits als alteingesessen. Der ständige Wechsel von Adressen und Telefonnummern ist ebenfalls nicht zu verachten.
Was zählt ist, ein Geschenk zu bekommen, egal, von wem. Und wer weiß, vielleicht bewirkt die starke Sehnsucht nach den versteckten Freunden ja eine Anwandlung ungeahnter Großzügigkeit. Viele Cariocas warten deshalb erst gar nicht darauf, in den Bus einzusteigen, um das große Los zu ziehen. Sie lassen die Glücksschnipsel bereits beim Warten an der Bushaltestelle die Runde machen. Denn wer sich gemeinsam am Ausgangspunkt einer Linie die Beine in den Bauch steht, um einen der raren Sitzplätze zu ergattern, wächst ebenfalls zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen.
Die gegenseitige Annäherung ist mindestens so groß wie bei den Businsassen, die sich, jedesmal, nachdem sie die Fahrt im Achterbahnstil lebend hinter sich gebracht haben, erleichtert auf die Schulter klopfen. Astrid Prange
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