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■ Ein Obdachloser aus Hamburg schreibtEs ist ein tolles Leben!

Da stehen wir herum, versuchen, den Tag zu schmeißen, ohne aufzufallen. Wir müssen uns anbieten, wie wir sind. Eigentlich wie jeder. Doch wir sind anders. Obdachlose!

Der Tag ist für viele von uns das größte Problem. Mit etwas Geld in der Tasche geht es noch. Cafés, Kneipen, Spielhallen, Bahnhöfe, wenn man Mut hat. Bibliotheken, wenn man Beziehung dazu hat: alles Möglichkeiten. Doch zwei Dinge stehen dagegen. Das Aussehen nach x Tagen ohne Wäscherei und das Gefühl zu stören. Beim zweiten Punkt stehen wir Betroffenen uns meist selbst im Wege. Da Selbstbewußtsein nicht zu unseren größten Stärken zählt, vermuten wir unsere Benachteiligungen schon, bevor sie uns ein Gegenüber vorhält. Man riecht an seinen Klamotten, sobald man sich in die Öffentlichkeit wagt. Wie oft habe ich mich selbst behindert, weil ich zu kritisch war. Aber es gibt ja auch eine Belohnung für diese Handlungsweise: Wenn man sich wie ein Schwein fühlt, kann man sich auch wie ein Schwein benehmen. Da viele Betroffene suchtkrank sind, ist hier die Folge eindeutig: Man säuft, zockt oder süchtelt auf andere Art weiter. Eine schöne Kreisbewegung.

Der erste Punkt hat mit dem tatsächlichen Aussehen, mit dem Bild in der Öffentlichkeit zu tun. Wenn ich feststelle, daß ich einige Tage lang keine Möglichkeit zum Waschen oder zum Wechseln der Kleidung hatte, kann ich diesen Zustand auch als vorübergehend ansehen, ohne Schuldzuweisung.

Gerade nach mehreren Regentagen ist es für mich schwer, im Zelt Sachen zu finden, die nicht riechen. Das ist einfach so. Ich kann mich, wenn ich das einsehe, in die Öffentlichkeit begeben. Die Reaktionen sind dann sehr unterschiedlich. Menschen, die mich kennen, nehmen das hin, versuchen teilweise sogar zu helfen. Doch die Masse der Unbeteiligten? Ich habe oft mehr Platz in der überfüllten S-Bahn, als ich brauche. Bei Fahrscheinkontrollen bin ich dran. Enttäuschung auf den Gesichtern der Kontrolleure. Manchmal muß ich in einem Café nicht bezahlen, wenn ich nur schnell austrinke und gehe. Je dunkler es wird, desto weniger Rücksicht wird auf uns genommen. Ohne Zeugen kann man schon mal seinen Frust bei einem „Penner“ abladen.

Was ändern? Wenn ich auf Behörden oder Institutionen warte, warte ich noch lange. Jammern hat mich auf den Weg nach unten gebracht. Also: Selbsthilfe! Gemeinsam mit anderen Obdachlosen gründete ich die Selbsthilfegruppe OASE. Das hat mir Kraft gegeben, neu anzufangen. Diese funktionierende Gruppe wurde zum Partner des Diakonischen Werks in Hamburg: beim Zeitungsprojekt Hinz & Kunzt. Diese Zeitung wird von Obdachlosen auf der Straße verkauft, eine Mark des Preises von 1,50 DM behält der obdachlose Verkäufer für sich. Hinz & Kunzt bietet neben Kulturgeschichten auch Texte von Obdachlosen selbst, über ihr Leben. Nach dem ersten Monat haben wir bereits 130 Verkäufer, 43.000 Zeitungen sind verkauft – ein Fanal.

Auf der Straße kommt es durch Hinz & Kunzt zu Begegnungen, die es sonst nicht gibt: Obdachlose und Wohnungsbesitzer treffen sich von Mensch zu Mensch, es ergeben sich Gespräche, geprägt von echtem Interesse füreinander. Viele wollen helfen: eine Schulklasse will Brötchen schmieren, eine Kirchengemeinde spendet Schlafsäcke, Firmen Obst, und einige Wohnungen und Winterquartiere sind auch in Aussicht. Wir sind sicher, daß unsere Begeisterung auch andere Mitbetroffene ansteckt und zur Bildung neuer Gruppen und Projekte anregt.

Jetzt, da von unten Bewegung in das Thema Obdachlosigkeit gekommen ist, reagiert auch die Politik. Die offiziellen, beschönigten Zahlen dieses Problembereichs werden zwar nicht gleich geändert, aber es gibt die ersten konkreten Gespräche. Und neue Termine stapeln sich im Kalender, den sogar ich als Obdachloser jetzt brauche. Es ist ein tolles Leben! Manfred

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