piwik no script img

Ein warmes Feuer unter der Plastikplane

■ Den Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne halten Obdachlose besetzt / Bezirk Mitte will räumen, Volksbühne und Anwohner unterstützen Besetzer

Ein Stück Dritte Welt in Berlin- Mitte: Rosa-Luxemburg-Platz, direkt neben dem Haupteingang der Volksbühne. In einem olivgrünen Zelt des „Malteser“-Hilfsdienstes und einer notdürftig aus Plastikplanen und Paletten improvisierten Notunterkunft mit der Aufschrift „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ hausen seit drei Wochen Lenin, Papa, Specki und Rainer. Vier von insgesamt fünfzehn Obdachlosen und BewohnerInnen der geräumten Wagenburg am Engelbecken.

„Obdachlosigkeit ist ein Schicksal, daß heutzutage jeden treffen kann“, erzählt „Papa“. Der ehemalige Gleisbauer saugt an einer Dose Bier und schüttelt seinen kahlrasierten Schädel: „Hätte nie gedacht, daß mir das auch mal passiert!“ Wie viele hat er den Kreislauf von Arbeitsplatzverlust, Zahlungsunfähigkeit, Wohnungskündigung und schließlich Obdachlosigkeit am eigenen Leib erfahren müssen. Seitdem lebt er auf der Straße und seit kurzem im Folienverschlag.

Ähnlich geht es auch Rainer. Noch vor nicht allzu langer Zeit war der langhaarige, redegewandte Mann ein erfolgreicher Ingenieur. Leichtfertiger Umgang mit Mahnungen des Finanzamtes und Versäumnisse beim Begleichen von Steuerschulden brachten ihn nach einem längeren Auslandsaufenthalt für fünf Monate in den Knast. Nach seiner Entlassung stand er ohne Arbeit und Wohnung auf der Straße. Seine Erfahrung im Umgang mit Ämtern und Behörden nutzt er engagiert für die Öffentlichkeitsarbeit der Platzbesetzer – wenn er sich nicht gerade mit den anderen zusammen im Behelfszelt die Füße wärmt.

Draußen ist es eiskalt. Die ehemaligen Hausbesetzer, Wagenburgler und Obdachlosen betrachten ihre warme, mit einem offenen Feuer beheizte Bleibe nicht nur als individuelle Chance, den kommenden Winter zu überstehen. Vielmehr wollen sie mit der Besiedlung öffentlichen Raumes auf dem Gelände der Volksbühne auch auf die Situation der zwölftausend Wohnungslosen in dieser Stadt hinweisen, denen noch ein langer Winter bevorsteht. Ein Winter, den einige von ihnen nicht überleben werden. Und so fordern die Platzbesetzer nicht nur einen akzeptablen Stellplatz für alle vertriebenen BewohnerInnen der ehemaligen Wagenburg, sondern darüber hinaus eine generelle Tolerierung von Haus- und Wohnungsbesetzungen. Kein Mensch dürfe im Winter auf die Straße geräumt werden.

Sie wehren sich mit ihrer Aktion auch gegen die Versuche der Politiker, das Problem der Obdachlosigkeit aus dem Stadtbild zu entsorgen. Die Unterbringung in Läusepensionen und der Aufenthalt in Wärmestuben betrachten sie nicht als menschenwürdig.

Dabei sehen sie genügend Alternativen. Im Westteil der Stadt, aber auch in Lichtenberg stehen weit mehr als tausend Wohnungen der ehemaligen Alliierten leer. Dazu kommt der Leerstand im Ostteil der Stadt, der von offizieller Seite mit „ungeklärten Eigentumsverhältnissen“ gerechtfertigt wird. Bislang wurden sämtliche Versuche der Obdachlosen, leerstehende Häuser in Mitte zu besetzen, schon im Ansatz vereitelt oder dauerten, wie im Fall der Häuser Weberwiese und Johannisstraße, nur wenige Stunden.

Die Obdachlosen vor der Volksbühne sind bunt zusammengewürfelt. Manche von ihnen, wie die Leute von der Wagenburg, wurden mehrfach von ihren jeweiligen Standorten vertrieben. Vom Engelbecken zogen sie zum Roten Rathaus, von dort zum Marx-Engels-Forum, bis sie sich schließlich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz ansiedelten. Doch auch hier gab es bald Schwierigkeiten und Räumungsversuche der Polizei. Angebote des Malteser Hilfsdienstes, anstelle von Folienverschlägen Schutzzelte zu errichten, wurden vom Bezirksamt Mitte mit der Begründung abgelehnt, daß die dauerhafte Existenz von Wagenburgen und ähnlichem in der Innenstadt für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unerträglich sei. Die Volksbühne sah das anders. Sie verweigerte sich dem Ansinnen der Polizei und des Bezirksbürgermeisters, einer Räumung zuzustimmen. Statt dessen unterstützt sie die Bewohner und Bewohnerinnen der Mahnwache mit Strom und Wasser und hat dafür gesorgt, daß ein Behelfsklo aufgestellt wurde.

Inzwischen kümmern sich zwei karitative Organisationen um die Versorgung der Protestierenden mit warmen Mahlzeiten. Und ganz im Gegensatz zur Ansicht des Bezirksamtes Mitte reagieren die Anwohner durchweg positiv auf die Aktion und unterstützen die Besetzer des Rosa-Luxemburg-Platzes mit Bekleidung und Heizmaterial. Peter Lerch

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen