: Erst kommen die Diäten, dann kommt die Partei
■ CDU-Mann Bergner zum neuen Ministerpräsidenten gewählt Obwohl die Partei dagegen votierte, stimmten zehn FDPler für Bergner
Magdeburg (taz) – Nie war die Motivlage so durchsichtig wie heute: Um sich ihre Diäten noch für ein knappes Jahr zu sichern, wählten 16 Abgeordnete, die nicht der CDU angehören, den christdemokratischen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt mit und verhinderten so vorgezogene Neuwahlen. Dem Ereignis angemessen standen die Abgeordneten im Landtag von Sachsen-Anhalt im entscheidenden Wahlgang buchstäblich im Dunkeln. Die zahlreichen Fernsehteams, die mit ihrer Technik das Stromnetz des Landtages angezapft hatten, sorgten damit für dessen Kollaps. Von der Dunkelheit im Plenarsaal vollkommen ungerührt, setzte das Landtagspräsidium die Abstimmung über den neuen Ministerpräsidenten fort. Als dann das Ergebnis vorlag, gingen Licht und Ton im Landtag zwar wieder, aber mancher FDP-Mann hätte das Wahlergebnis für den CDU-Kandidaten Christoph Bergner wohl eher in schonender Dunkelheit vernommen. Von 80 abgegebenen Stimmen entfielen 60 auf Bergner. Damit wählten ihn auch 16 Abgeordnete, die nicht seiner CDU-Fraktion angehören, zum neuen Regierungschef von Sachsen-Anhalt. Auf seinen Gegenkandidaten, den Bündnis 90/Grüne-Fraktionschef Hans-Jochen Tschiche, entfielen 17 Stimmen, drei Abgeordnete enthielten sich der Stimme, drei weitere warfen ungültige Stimmzettel in die Wahlurne.
Die Wahl verlief geheim, kaum jemand kann einem Abgeordneten jetzt im nachhinein zweifelsfrei nachweisen, ob der sein Kreuz hinter Bergners Namen gemacht hat oder nicht. Dennoch begannen gleich nach dem Wahlgang die Spekulationen darüber, wo die Abweichler zu suchen sind. Das Wahlergebnis warf alle zuvor angestellten Rechenspielchen durcheinander. SPD-Fraktionschef Reinhard Höppner, der nach wie vor für Neuwahlen nach der Gehälteraffäre und der Koalitionskrise ist, hätte sich sicherlich ein anderes Präsent zu seinem 45. Geburtstag gewünscht, als es die Landtagsabgeordneten mit ihren Kreuzen letztlich überreichten.
Kaum war die Wahl vorbei, ging es bei der FDP hinter verschlossenen Türen heftig zur Sache. Denn der liberale Landesvorsitzende Peter Kunert kann sich leicht denken, daß bei der Mehrheit für Bergner gleich im ersten Wahlgang auch der eine oder andere Liberale mitgespielt und damit kraß gegen die ausgerufene Partei- und Fraktionslinie verstoßen hat. „Da drin kommt es jetzt zum großen Knatsch“, sagte ein FDP-Insider vor der Tür. Dieser Knatsch ist mit dem ersten großen Krach bei den Liberalen heute nachmittag nicht zu Ende. Am 11.Dezember ist in Magdeburg Landesparteitag, die FDP will dann ihre Liste für die Landtagswahl aufstellen, die nun wohl tatsächlich noch ein Jahr auf sich warten läßt. Ob aber die jetzigen 13 Fraktionsmitglieder über diese Liste wieder in den Landtag einziehen werden, dürfte nach dem Wahlergebnis, das nicht zuletzt für Peter Kunert eine schwere politische Niederlage bedeutet, äußerst fraglich sein.
Ebenso fraglich ist aber auch, ob mit der Wahl Bergners die tiefe politische Krise zu Ende ist, in die das Land nach der Gehälteraffäre und dem Koalitionskrach gestürzt ist. Fraktion und Landesvorstand der FDP hatten zwar angekündigt, auch im Falle seiner Wahl zum neuen Regierungschef keinen Minister in ein Kabinett von Christoph Bergner zu entsenden, Fraktionschef Hans- Herbert Haase deutete aber schon gleich nach Wahl an, daß das nicht das letzte Wort bleiben müsse.
Vor der Wahl Bergners zum neuen MP hatten die Abgeordneten rund drei Stunden teils sehr kontrovers, teils sehr emotional über einen Antrag von SPD und Bündnis 90/Grüne zur Auflösung des Landtags und zur Ausschreibung von Neuwahlen debattiert. SPD-Fraktionschef Höppner verwies dabei noch einmal auf die Stimmungslage in der Bevölkerung, die in mehreren Umfragen mit mehr als 70 Prozent einen politischen Neuanfang forderte. „Wer den Bezug zur Realität verliert, steht vor dem Untergang“, sagte er seinem CDU-Kollegen Bergner und forderte ihn zum Verzicht auf die Kandidatur auf. Bergner wies dieses Ansinnen zurück und betonte erneut, daß die Wähler 1990 einen klaren Auftrag gegeben hätten. Und der laute nun mal, eine christlich-liberale Koalition bis 1994 zu bilden. An diesen Auftrag wolle er sich weiterhin halten. Noch einmal ein deutliches Zeichen also in Richtung FDP.
Von deren Abgeordneten können sich viele ausrechnen, daß sie bei vorgezogenen Neuwahlen ebensowenig wieder in den Landtag einziehen wie die acht fraktionslosen Parlamentsmitglieder. Mitten in der Debatte wurden deshalb mehrere Abgeordnete von ihren Gefühlen übermannt. Bei der Rede des FDP-Abgeordneten Konrad Breitenborn brach der Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, Christoph Bergner (CDU), in Tränen aus. Ebenfalls mit Tränen in den Augen erklärte Breitenborn mit Blick auf die Wahl des Regierungschefs, er werde nicht vor der FDP-Parteizentrale auf dem Bauch liegen. Er fragte, was Demokratie noch wert sei, wenn politischer Wohlverstand mit Listenplätzen vertauscht werde. Der FDP-Politiker spielte damit offensichtlich auf die harte Auseinandersetzung zwischen FDP-Fraktion und Vorstand an. Landesparteichef Peter Kunert hatte die Fraktion auf die Forderung nach Neuwahlen eingeschworen und sich gegen Bergner gewandt. Nach der gefühlsgeladenen Rede lagen sich mehrere Abgeordnete in den Armen.
Trotz aller öffentlichen Dementis ist die Sicherung des eigenen Stuhls und der damit verbundenen Diäten für viele Abgeordnete, egal aus welcher Ecke sie nun kommen, sicher ein schlagkräftiges Argument gewesen, als sie ihr Kreuz hinter Bergners Namen machten. Die Suche nach ihnen wird innerhalb einiger Fraktionen sicher für weitere politische Unruhe sorgen. Die wollte die SPD vermeiden. Die meisten Sozialdemokraten nahmen ebenso wie die fraktionslosen Abgeordneten Jürgen Angelbeck und Joachim Auer nicht am Wahlgang teil. Eberhard Löblich
Kommentar Seite 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen