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Gegen die Lagertristesse

Helfer aus Westeuropa bringen neue Ideen in einige Auffanglager in Kroatien / „Suncokret“: Mit Malkästen zu den Flüchtlingen  ■ Aus Brac Matthias Neuner

Eben hängen die 58jährige Lisa und der zwanzig Jahre jüngere Ole ein riesiges „E“ und „T“ an die Wand. Nachdem sie ein paar Schritte zurücktreten, können die beiden dänischen Volontäre auch die übrigen Buchstaben lesen: „SUNCOKRET“ prangt nunmehr an der Wand des Speisesaals. Dieses kroatische Wort heißt, streng übersetzt, „jemand, der sich zur Sonne wendet“, oder, einfacher, Sonnenblume.

Suncokret ist auch der Name einer Hilfsorganisation, die im Sommer 1992 von kroatischen Studenten und Aktivisten der internationalen Friedensbewegung ins Leben gerufen wurde. Meist ohne Ausbildung und mit wenig Geld, aber voller Kreativität und Hoffnung starteten sie ein ehrgeiziges Projekt: Mit ein paar Zeichenblöcken, Malkästen und viel Zeit zogen sie in die größten Flüchtlingslager Kroatiens, die notdürftig errichtet und mit einer Minimalausstattung versehen worden waren. Dort wollten die Aktivisten aus den aus unterschiedlichsten Teilen Jugoslawiens Geflohenen ein soziales Gefüge formen. In persönlichen Gesprächen setzten sie sich mit den Auswirkungen der in den Kriegswirren erlittenen Traumata auseinander. Und sie schafften Material herbei, um den Betroffenen eine Beschäftigung zu ermöglichen: Kartenspiele, Wolle, Stricknadeln, Spielzeug.

Inzwischen ist Suncokret zu einer großen Organisation angewachsen, die Millionen an Spendengeldern verteilt und zahlreiche Volontäre in die 26 von ihr verwalteten Lager geschickt hat. Über Hilfsorganisationen werden diese vor allem aus Deutschland, England, Frankreich und den Niederlanden nach Kroatien vermittelt. Die Arbeit ist ehrenamtlich, sogar die Fahrt muß von den Freiwilligen, unter ihnen viele Mediziner und angehende Sozialarbeiter, selbst bezahlt werden. Drei Wochen dauert der Einsatz. Länger soll niemand bleiben. Dahinter steckt die Idee, daß die Helfer frischen Wind, Energie und neue Ideen in die Tristesse des Flüchtlingslagers bringen, nicht nur für die Flüchtlinge, auch für die ständig anwesenden Betreuer. Erfahrungsgemäß setzen nach drei Wochen unter schwierigen Arbeitsbedingungen, begleitet von Dauerstreß und starken emotionalen Verstrickungen, die ersten Ermüdungserscheinungen ein. Ebenso wie die Flüchtlinge sitzen auch die Helfer hier fest, können sich aus dem Alltag des Lagers nicht befreien und kaum abschalten.

Eins dieser Lager liegt auf der dalmatinischen Insel Brac. In dem Dorf Bol leben derzeit noch 220 Flüchtlinge in einem ehemaligen Touristenhotel. In ganz Kroatien wurden infolge der Kriegswirren Hotels zu Lagern umfunktioniert – Touristen kommen ohnehin nicht mehr. Momentan hat in Bol jeder Flüchtling ein Bett, noch vor einem Jahr war die dreifache Zahl kroatischer oder muslimischer Bosnier dort untergebracht. Die hygienischen Verhältnisse und die Ausstattung hier sind relativ gut – in anderen Lagern haben die Flüchtlinge in Holzverhauen und Zelten dem einsetzenden Winter kaum etwas entgegenzusetzen. Der Tagesinhalt der Lagerinsassen ist trostlos. Fern von ihren Angehörigen, von der Vertreibung psychisch angegriffen, wird ihr Tagesrhythmus von den Mahlzeiten bestimmt. Oft nur zum Essen verlassen die Frauen mit ihren Kindern und die älteren Leute ihre neun Quadratmeter großen Doppelzimmer. In einem großen Speisesaal treffen sich abgemergelte Gestalten und schlingen das Essen hinunter, als hätten sie das Gefühl, etwas zu verpassen. Gemüse gibt es einmal in der Woche, obwohl es vor dem Lager von mehreren Händlern angeboten wird. Für den Flüchtlingsgeldbeutel ist es immer noch zu teuer. Statt dessen wird in der Küche mit Aluminiumbeuteln, Instanttüten, Nudeln und Büchsensalami gearbeitet. Dem drohenden Vitaminmangel wird durch Tabletten aus einer Packung begegnet, auf der zu lesen steht: „Nicht in westlichen Ländern, sondern nur in der Dritten Welt zu verwenden.“

Ernährungsbedingt faulen vielen Kindern die Milchzähne weg, klagen Flüchtlinge über Konzentrationsstörungen. Dem drohenden Hospitalismus versuchen die Helfer mit einem vielfältigen Angebot zu begegnen. Ole und Lisa haben mit ein paar Kindern in der Bastelstunde die Buchstaben von Suncokret malen lassen. Außerdem wurde ein Kindergarten aufgebaut; die Älteren gehen in die Schule und können an Teenagerabenden und Nachtwanderungen teilnehmen. Mit den Jugendlichen der drei anderen Lager auf der Insel werden Fußballspiele organisiert. Den Erwachsenen werden Englisch- und Deutschkurse angeboten – damit erhalten sie immerhin die Möglichkeit, auch im Lager geistig an sich zu arbeiten.

Den meisten Zuspruch findet allerdings der gespendete Fernseher. Obwohl er schwer erträgliche Pfeiftöne von sich gibt, versammeln sich an jedem Abend etwa zwanzig Leute vor der kroatischen „Tagesschau“ – für die Vertriebenen der einzige Weg, Informationen über die Lage in ihrer Heimat zu bekommen. Mit dem Kampfgeschehen, das durch den Zerrspiegel der Propaganda auf den Bildschirm kommt, stehen und fallen für sie hier die Zukunftsperspektiven.

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