: Sich beim Stören gestört
■ Hamburger SV schenkte dem KSC in der drittletzten Minute ein 1:1
Nieselregen stimmt mitunter sehr gnädig. Mildernden Umständen gleich schob er sich am Sonnabend in Stellingen vor die erwartungsfrohen Häupter mit den roten Filzmützen (fünf Mark) und dämpfte deren stoffliche Schrille, die nur vom Klingeln ihrer beglöckchelten Zipfel übertroffen wurde. Der milchige Schleier verhinderte jedoch nicht nur, daß es zu sehr weihnachtete, er verzärtelte auch die Erwartungen. Nein, man erwartete keines jener Spiele, die in die Annalen eingehen. Ein 1 oder 2:0 für den HSV und hinterher sagen zu können „ja, Fußball war's“, das sollte den 19.000 Getreuen für dieses Mal reichen.
Der Anfang zumindest verlief plangemäß - beide Teams mußten schließlich auf ihre Dynamos verzichten. Das Karlsruher Spiel ohne Sergej Kirjakow floß dabei weit weniger erhellend dahin, als das der Hamburger ohne Valdas Ivanauskas. In der 25. Minute schob Jürgen Hartmann, konsequent und unauffällig wie es seine Art ist, zum 1:0 ein. Da bimmelten die zirkulierenden Zipfel zermürbend. Fortan - „in einer Position, die uns eigentlich sehr liegt“ (Benno Möhlmann) - versuchte vor allem Jörg Albertz KSC-Coach Winfried Schäfer zur Verzweiflung zu bringen, was ihm recht gut gelang. Zum Explodieren brachte er ihn aber auch nicht und so blieb es bis zur Pause bei der knappen Führung der Heimequipe.
Nach der Pause gelang es beiden Teams überaus erfolgreich, sich gegenseitig beim gegenseitigen Stören zu stören. Oliver Kahn und Richard Golz hatten Gelegenheit, ganz bewußt zu erleben, wie langsam erst Schultern, dann Brust, Hälfte, Oberschenkel und so fort naß wurden, bis schließlich ihre Körper ganz naß, schwer und entspannt wie Frotteehandtücher waren, die nach dem Duschen zum Feudeln der Badezimmerfliesen benutzt wurden. Selbst die Tore troffen vor Mitleid.
Auf den Rängen nutzte man die epische Lücke zur Anlagerung von Gedanken an Franz, den Kaiser, der hier 1980 mit dem HSV gegen den gleichen Gegner brillierte oder an Richard von Weizsäcker und seine dicke Lippe, die zeitgleich in Düsseldorf weilten und Michael Stich beim Tennis zuschauten.
Am Volkspark wurde es erst 17 Minuten vor Schluß wieder interessant. Karsten Bäron und Thomas von Heesen hatten im Minutentakt die Gelegenheiten, den aufkeimenden Ausgleichsversuchen der Gäste die reale Basis zu nehmen. Karsten Bäron überraschte die Wenigsten mit seiner gewohnten Kopfballschwäche, die gemessen an seiner Körpergröße wohl einen der schärfsten Widersprüche der Liga markiert.
Warum aber in dieser entscheidenden Phase gerade von Heesen, auf den sich seine Jungs beim Verwandeln von Elfmetern voll verlassen können, frei vorm Tor an den im Abseits befindlichen Bäron abgab, der zudem noch vergrätschte, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. In der 87. Minute, die Pessimisten hatten es bereits mehrfach prophezeit, erzielte Slaven Bilic den Ausgleich: das ist eben Bundesliga.
Benno Möhlmann versuchte seinen Frust zu transzendieren, indem er sich in die Psyche des Gewinners versetzte: „Winfried Schäfer kann über den Punktgewinn wirklich froh sein.“ Zu diesem Zeitpunkt waren schon wieder Milliarden kleinster Feuchtigkeitspartikel auf den Rasen genieselt. Gnädig eben.
Claudia Thomsen
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