: Tatarstan auf Distanz zu Moskau
Die ehemalige autonome Republik hat sich vor drei Jahren für unabhängig erklärt, beteiligt sich aber an den russischen Parlamentswahlen am kommenden Sonntag ■ Aus Kasan Klaus-Helge Donath und Sabine Herre
„Ich bin in Asien. In Kasan leben zwanzig verschiedene Völker, sehr unterschiedliche, aber sie alle müssen die gleichen Kleider tragen, und sie passen ihnen“, frohlockte Zarin Katharina II. 1767 in einem Brief an Voltaire. Seit drei Jahren wehren sich die Tataren offen gegen den Gleichschaltungsdruck aus Moskau. Die Republik Tatarstan hatte sich 1990 für unabhängig erklärt. Seither herrscht Mißtrauen zwischen der Hauptstadt Kasan und Moskau. Die Machthaber in Tatarstan sind allerdings die alten geblieben – wie zu Sowjetzeiten. Präsident Mintimer Schaimijew eilte den Verschwörern des ersten Moskauer Putsches 91 noch willfährig entgegen. Dann setzte er voll auf die Unabhängigkeit seiner 800 Kilometer ostwärts von Moskau gelegenen Republik. An keiner Wahl in föderaler Angelegenheit nahm Tatarstan wirklich teil, auch die Präsidentenwahlen boykottierte es.
Über dem Eingang der Musikschule in der Puschkinstraße hängt jetzt eine rot-weiße Tafel: Wahllokal 2116, zu den Wahlen der Staatsduma der Russischen Föderation ... Kasan hat den Anweisungen Moskaus Rechnung getragen. Die Vorbereitungen für den Urnengang am kommenden Sonntag laufen. Formal gehe alles seinen Gang, meint der Parlamentsabgeordnete Michailow. Formal. Der große Streit um das Für und Wider der Person und Politik Boris Jelzins ist hier kein Thema.
Michailow kandidiert für die neue Staatsduma. Nationalisten vor Ort schimpfen ihn einen „Föderalisten“, weil er bei Rußland bleiben möchte. Michailow ist Russe wie weitere 43 Prozent der Bevölkerung. Die Tataren sind mit 48 Prozent in ihrer eigenen Republik nur leicht in der Überzahl.
„Offen unternehmen sie nichts gegen die Wahlen, setzen aber alles dran, um die Beteiligung niedrig zu halten“, sagt Michailow und wedelt dabei mit der Zeitung Souveränität. In deren Kopf steht: „Teilnahme an den Wahlen im benachbarten Rußland – das ist Verrat an den Staatsinteressen unseres Vaterlands“. Angeblich kursiert die Zeitung in einer Auflage von einer halben Million, früher soll sie ein Käseblättchen gewesen sein. „Woher kommt das Geld?“ fragt Michailow. Selbstverständlich hat er seine Vermutung – ob wahr oder auch nicht.
Den Russen fällt es schwer, nicht mehr die erste Geige zu spielen. Das macht sie hypersensibel und anfällig für alle Gerüchte, die irgend etwas mit ihnen zu tun haben. Andererseits räumen die russischen Parlamentarier ein, daß es in Kasan keine wirklichen interethnischen Konflikte gibt. Seit Generationen leben die beiden Völker hier zusammen. „Mischehen machen fast ein Drittel aus. In letzter Zeit sind sie ein wenig rückläufig“, gesteht selbst der Vorsitzende der Gesellschaft Watan (Heimat), die sich um die im Ausland lebenden Tataren kümmert. Dazu gehören auch die ehemaligen sowjetischen Republiken. Über fünf Millionen Tataren leben außerhalb ihrer Republik. Der größte Teil von ihnen in Rußland.
Die Nationalisten aus dem „Tatarischen gesellschaftlichen Zentrum“ (TOZ) haben sich am letzten Wochenende gespalten. „In Zentristen und Radikale“, erläutert Damir Gismetdinow, der Watan-Vorsitzende. Er selbst rechnet sich und seine Organisation zu den Zentristen. Der radikale Flügel der TOZ verlangt eine kompromißlose Gangart gegenüber Moskau. Er will Beiseslek (Unabhängigkeit) sofort und ohne Konditionen. Speerspitze der Ultranationalisten ist die Partei Ittifak. Ihre Vorsitzende Fausija Bairamowa schlägt publizistisch seit langem kriegerische Töne an: „Wenn es Dir in Tatarstan nicht paßt, ,großer Bruder‘, dann verschwinde dorthin, wo es Dir gefällt ... Wir werden bis zum letzten Blutstropfen kämpfen ... Ein einzelner Krieger Dschingis Khans hat es mit hundert Gegnern aufgenommen, das sollten wir nie vergessen.“
Professor Muljukow war einer der Gründungsväter des TOZ. Er unterrichtet an der Kasaner Universität Geschichte. Kasans Alma mater auf einer Anhöhe gelegen hinterläßt noch Erinnerungen an die einstmalige Blüte und den Reichtum der Stadt im Zarismus. Architektonische Vielfalt und eine Menge Platz. Der junge Uljanow (Lenin) studierte hier. Das Denkmal des energischen Studenten steht noch. Muljukow sieht in der Spaltung der nationalistischen Bewegung die größte Gefahr: „Wir müssen jetzt um die Einheit kämpfen.“
Die Zentristen unterstützen Präsident Schaimijew. Im tatarischen Fernsehen trat der entschieden mit einer Absage an die neue russische Verfassung auf. Er wird nicht an der Abstimmung darüber teilnehmen, die ebenfalls am nächsten Sonntag stattfindet. Sein Vizepräsident Lichatschow zog am nächsten Tag nach. So überzeugt und energisch die Regierung nach außen hin auftritt, so ganz scheint sie ihrer Sache nicht sicher zu sein. Die Spaltung der Nationalisten mag man auch als ein Zeichen dafür werten, daß der Unabhängigkeitskampf, das Engagement in der Bevölkerung, am Abebben ist. Momentan kämpft Schaimijew hauptsächlich um seinen Machterhalt. Er befürwortete eine Auflösung des Parlaments und anschließende Neuwahlen. Allerdings mit neuen Wahlgesetzen, die der Landbevölkerung ein größeres Gewicht beigemessen hätten. Hier, bei den alten Kolchosniks, die ihre Arbeiter materiell zur „Stimmenabgabe“ bewegen, könnte er eher auf Nummer Sicher gehen. Die Versuche scheiterten zunächst.
Ein Grund für das Selbstbewußtsein der tatarischen Elite liegt im Ressourcenreichtum des Landes. Vor allem verfügt es über Öl. Alle glauben an das „tatarische Kuwait“. Damit sei es aber nicht soweit her, meint ein Abgeordneter. Rafael Chakimow, Präsidentenberater, macht für seinen Herrn einen guten Job. Er kann überzeugen. Zweifel an der Selbständigkeit Tatarstans gestattet er nicht.
Nach den Wahlen hat die russische Regierung zugesagt, sich mit der tatarischen noch einmal an den Tisch zu setzen. Doch was kann dabei herauskommen? Von hundertprozentiger Souveränität sofort ist nicht mehr die Rede – irgendwann einmal, heißt es jetzt. Man ist sogar bereit, für föderale Aufgaben Steuern zu entrichten. „Eine eigene Armee wollen wir nicht und auch kein Raumfahrtprogramm. Doch unsere Rohstoffe gehören uns“, sagt Chakimow. Und was passiert, wenn die neue Verfassung Rußlands angenommen wird? In Tatarstan werde sie nicht gelten. Unabhängig vom Ausgang des Tauziehens: die mehrheitlich muslimischen Tataren wollen sich nicht länger vom „russischen Kolonialherren“ demütigen lassen. Im bescheidenen, eher folkloristischen Museum gegenüber dem Kreml hängt ein frühes Beispiel aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. In einem Ukas des Zaren wird Tataren und anderen Völkern die Anfertigung von Waffen und Zaumzeug strengstens verboten. Als Ausgleich brachten sie das Juweliershandwerk daraufhin zu höchster Vollendung, wie man es dergleichen im Russischen Reich nicht noch einmal findet.
Die Tataren nennen die Wolga Ithil, den „Fluß der Flüsse“. Jetzt ist der längste Fluß Europas zugefroren, und die Handelsflotte Tatarstans liegt aufgedockt auf seinem Eis. Hamburg–Istanbul ist ihre Route, der Transport von Metallen eine der Einnahmequellen des Staates. Jetzt spielen Kinder auf der Wolga und ihren Kasaner Seen Eishockey. Das blendende Weiß des Eises nimmt vielen die Sicht und verringert die Trefferquote. Für die Slawen ist der Fluß der Flüsse hell, glitzernd: wolga. Kasan ist ein weiße Stadt. Weiß ist der Kreml, seine Türme, seine Mauern, seine Kathedrale. Weiß ist das Theater. Weiß das klassizistische Gebäude der Universität.
Nur wenige hundert Meter vom Kaban-See entfernt liegt die Moschee Mardschani, eine tatarisch- russische Kreation. Das Minarett steht nicht frei, sondern sitzt wie ein Reiter auf dem Giebeldach des Hauptgebäudes. Dieses trägt eine – weiße – barocke Fassade. Säulen und Pilaster. „Ja, an den Ufern des Kaban-Sees gibt es eine Tatarensiedlung, und die Kinder der Bojarenfamilien Kasans waren ihre Wächter“, berichtet eine russische Quelle. Die Zahl der Höfe der „Alttatarischen Siedlung“ lag bei 150, mehr durften es auf Anordnung der russischen Herren nicht werden, und so herrschte bald qualvolle Enge. Ein deutscher Berufsreisender schrieb in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts: „In der Stadt leben zwar Russen und Tataren, aber den Tataren ist es nicht erlaubt, den Kreml zu betreten.“ Achtzig Jahre vorher, nach der Eroberung Kasans durch Iwan den Schrecklichen 1552, hatte Moskau die Schleifung aller Kasaner Moscheen befohlen.
Der tatarische Historiker Iskander Giljasow sieht jedoch auch die Vorteile des Ghettos: „Die Alttatarische Siedlung war die einzige Niederlassung, in der die Tataren ihre städtische Kultur nach der Niederlage gegen die Russen weiterentwickeln konnten. Als am Ende des 18. Jahrhunderts die Beschränkungen aufgehoben wurden, konnten mit Hilfe der Tataren Kasans in anderen Regionen Rußlands tatarische Städte entstehen.“
Der Regierung Tatarstans ist der Wert der Alttatarischen Siedlung nicht verborgen geblieben. Kasaner Architekten arbeiten an einem Projekt für die Rekonstruktion der historischen Gebäude. In- und ausländische Investoren sollen „mit der Aussicht auf stabile Gewinne“ angelockt werden, rund fünfzig verschiedene Bauvorhaben – von der Wirkungsstätte der ersten tatarischen Theatergruppe über die Wohnhäuser berühmter Tataren bis zum Sitzungsort des Stabes des ersten muslimisch-sozialistischen Regiments – sind vorgesehen. Erneuert werden sollen auch die Moscheen der Stadt.
Doch noch ist Kasan eine russische Stadt. Bestimmt von russischer Architektur und sowjetischen Menschen. Von sowjetischer Architektur und russischen Herren. Über der Wolga breitet sich der „Palast der Freundschaft“ aus. Ein rotes Marmormonument neben Holzhäusern. Die Stadt zählt über eine Million Einwohner, doch an der Hauptstraße ragen die Häuser über zwei Stockwerke nicht hinaus – eine russische Gouverneursstadt des 19. Jahrhunderts. Das Kasino der Offiziere am heutigen Platz der Freiheit ist eine Stahlkonstruktion aus den letzten Jahrzehnten, doch über dem gegenüberliegenden Gebäude könnte der Zarenadler hängen. Gelb- weißer Barock, aus St. Petersburg in die Provinz versetzt. Und auch die Kioske im Zentrum sind nur das verkleinerte Abbild der hauptstädtischen Verhältnisse. Snickers und Heineken-Bier gibt es auch in Kasan.
Doch immer mehr macht sich die tatarische Wirtschaft den Wunsch nach der „Wiederbelebung der nationalen Kultur“ zu eigen. Das Unternehmen „Tatarmestprom“ hat sich auf die Herstellung von handgemachten ornamentierten Lederschuhen spezialisiert. Das „Lik-Fashion Theatre“ zeigt bei seinen Bühnenshows Modelle von Designern, die sich von tatarischen Folklorekostümen inspirieren lassen.
Im Hof der Kasaner Hauptmoschee sind am Sonntag vormittag vier Tote aufgebahrt. Über den Körpern der Frauen wölbt sich, der Tradition entsprechend, ein Zelt aus Stoffbahnen, die Männer sind mit bunten, leinenen Tüchern bedeckt. Vor dem Hof warten die Verwandten. Männer zwischen 45 und 60, keine Jüngeren. Obwohl das Mittagsgebet noch andauert, werden Besucher eingelassen – auch Frauen. „Die Gefahr eines islamischen Staates besteht bei uns mit Sicherheit nicht“ sagt Damir Gismetdinov von Watan. „Wobei die Religion natürlich notwendig ist“, unterbricht sein Vizepräsident. „Die Religion ist wichtig, aber bei uns haben die Frauen nie einen Schleier getragen. Auch vor der Oktoberrevolution nicht.“
Der Berater des Präsidenten kann ein besonderes Interesse der islamischen Welt an seinem Land nicht feststellen. „Die Investitionen aus Deutschland und den USA sind sehr viel höher.“ Die Türkei will es sich mit Moskau nicht verderben. Und auch die arabische Schrift will die Regierung nicht wiedereinführen. Schließlich hätten die Tataren in diesem Jahrhundert bereits zweimal zwangsweise eine neue Schrift erlernen müssen. 1927 wurde das lateinische Alphabet eingeführt, 1936 das kyrillische. Doch schon schmücken sich einige nationalorientierte Zeitungen mit arabischen Titeln. In einem Kasaner Kinderkaufhaus gibt es nebem dem Spiel „Der Aktionär“ auch einen Schutzumschlag für Reisepässe zu kaufen. Die Beschriftung lautet: Republik Tatarstan. Auf kyrillisch und arabisch.
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