piwik no script img

Russisch-baltische Verstimmungen

■ Estland, Lettland und Litauen in Sorge um eine von Europa geförderte Gendarmenrolle Moskaus / Verhandlungen vertagt

Stockholm (taz) – Kein Zufall, sondern zwei Seiten eines Themas: Während die russisch-baltischen Truppenabzugsverhandlungen im lettischen Jurmala am Dienstag nach zwei erfolglosen Tagen auf nächstes Jahr vertagt wurden, trafen sich einige hundert Kilometer weiter in Estlands Hauptstadt Tallinn am gleichen Tag die Außenminister der baltischen Staaten. Vor allem seit die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bei ihrem Gipfel in Rom in der vergangenen Woche Moskau eine Art Lizenz zum friedensstiftenden militärischen Eingreifen in der Ex-Sowjetunion ausgestellt hat, haben die baltischen Staaten offenbar das Gefühl, zusammenzurücken und ihr Vorgehen koordinieren zu müssen.

Die KSZE-Position schwächte die baltische Seite gerade in dem Moment, als sich eine Lösung der Truppenabzugsfrage anbahnte. In Estland sitzen die gerade noch 2.500 russischen Soldaten schon fast auf gepackten Koffern: Moskau will sie abziehen, wenn es für eine Übergangszeit die schrottreife Marinebasis Paldiski weiterbenutzen kann. Anders sieht es mit Lettland aus: Dort steht noch eine intakte russische Truppe von 12.000 bis 14.000 Soldaten, und es gibt dort noch eine moderne und vom russischen Militär genutzte wichtige Radarstation in Skrunda, 190 km südwestlich der Hauptstadt Riga. Aber das letzte Angebot Moskaus war großzügig: Abzug aller russischen Truppen bis spätestens Mitte 1994 bei Weiterbenutzung von Skrunda für sechs Jahre — ein „bedeutender Fortschritt“, wie Lettlands Delegationsleiter bei den Verhandlungen, Martins Virsis, einräumt, „im Vergleich zu dem, was wir bisher von den Russen gehört haben“.

Die Radaranlage von Skrunda war Teil der vorgeschobenen Luftabwehrüberwachung der Sowjetunion. Von hier aus kann man über die Ostsee bis nach Deutschland hineinhören und -sehen. Doch wäre es kein großes technisches Problem, eine ähnliche Anlage in Kaliningrad zu errichten, wohin Rußland sowieso schon den größten Teil seiner aus dem Baltikum abgezogenen militärischen Ausrüstung verlegt hat. Fjodor Iwanowitsch Melnitschuk, Oberstleutnant und stellvertretender Kommandant der russischen Truppen, ist aber dagegen: Das würde Zeit erfordern, und entsprechend würde sich dann der Abzug aus Lettland hinauszögern müssen. Außerdem könne die Rote Arme Lettland nicht einfach eine intakte Radarstation überlassen.

„Wir brauchen Skrunda absolut nicht“, versichert dagegen Oberst Dainis Turlais, Oberkommandierender der gerade im Aufbau befindlichen lettischen Armee: „Wir haben weder technische noch wissenschaftliche noch militärische Kapazität, Skrunda überhaupt auszunutzen.“ Daß die Nato an einer intakten Skrunda-Station demgegenüber durchaus interessiert sein könnte, dürfte dagegen nicht auszuschließen sein.

Dainis Turlais macht ganz anderes Kopfschmerzen. Rußland eine friedensschaffende Kompetenz in der Ex-Sowjetunion zuzugestehen angesichts der unsicheren Lage in Moskau, ist für ihn ein Unding. „Bei den Unruhen im Oktober haben sich die russischen Organisationen hier im Lande darauf vorbereitet, die zahlreichen Waffen, die sie haben, auch einzusetzen. Und es war deshalb keinesfalls grundlos, daß unsere Regierung diese Organisationen verboten hat.“ Die russischen Soldaten und dazu die 20.000 pensionierten Offiziere und KGB-Leute in Lettland seien ein Meer der Unruhe.

30 Prozent der Bevölkerung Lettlands sind russischer Herkunft. Nur ein Drittel von ihnen hat bislang die Staatsbürgerschaft erhalten. Einen Zusammenhang zwischen dieser Frage und dem Truppenabzug stellt Rußland zwar nicht mehr so offen her wie in der Vergangenheit. Aber er existiert: Lettland hat nicht nur die Truppenabzugsverhandlungen ins nächste Jahr vertagt, sondern auch die weitere Behandlung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Parlament. Reinhard Wolff

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen