: Jedem das Seine und für jeden etwas
Ohne falsche Bescheidenheit kann sich Rußlands Rechtsaußen Wladimir Schirinowski als Wahlsieger feiern lassen, das Lager der „Demokraten“ dagegen wird sich schonungsloser Selbstkritik unterziehen müssen. Trotzdem gingen Jelzin und seine Mannschaft nicht ganz leer aus, immerhin wurde die von den Reformern zur Wahl gestellte Verfassung angenommen.
Die vorläufigen Ergebnisse der Wahlen geben der Führung im Moskauer Kreml wenig Anlaß zum Frohlocken. Ungeachtet des endgültigen Ausgangs steht schon jetzt fest: Der Faschist Wladimir Schirinowski kann sich ohne falsche Bescheidenheit als eigentlicher Wahlsieger wähnen, rund ein Fünftel der Wähler gab ihm seine Stimme. Trotz allem gingen Jelzin und seine Mannschaft nicht ganz leer aus. Die Verfassung, die dem Präsidenten weitgehende Vollmachten zusichert, wurde angenommen. Hierin liegt eine Garantie für die Fortsetzung des Reformkurses und nicht zuletzt den Aufbau eines demokratischen Institutionenwesens, das gerade Leute wie Schirinowski zurück in die nun unumstrittene verfassungsrechtliche „Legalität“ zwingt.
Für den Erfolg des Possenreißers Schirinowski lassen sich viele Ursachen finden. Sie sind beileibe nicht einheitlich und hängen von der Geographie Rußlands und einzelnen Interessengruppen ab. Nur ein Teil seines Zuspruchs läßt sich mit wirtschaftlicher Unzufriedenheit in der Bevölkerung erklären. Hauptmotiv der Wähler und Schwerpunkt der populistischen Kampagne lagen auf klassischen Law-and-order-Positionen – bis hin zur Todesstrafe für Mafiosi und andere Banditen. Seine Entschlossenheit bekundete er durch das Versprechen, das gleich, sozusagen an Ort und Stelle, erledigen zu lassen. Die wachsende Kriminalität hat viele Russen verunsichert. In den Nachwehen des Putsches begrüßten drei Viertel der Moskauer Bürger hartes und offen rassistisches Vorgehen gegen kriminelle und vermeintliche Straftäter aus den Kaukasusregionen.
Für die in Parlamentswahlen noch unerfahrenen Russinnen und Russen spielte auch Schirinowskis „Unverbrauchtheit“ eine Rolle. Aus den politischen Flügelkämpfen der letzten beiden Jahre hielt er sich geschickt heraus. Den Oktoberputsch überstand er unbeschadet. Die anderen faschistischen und rotbraunen Organisationen wurden verboten, gegen die „Liberaldemokratische Partei“ lag hingegen nichts vor. Erst mit der neuen Verfassung gäbe es eine Handhabe gegen ihn.
Die Wähler, das zeigt auch die niedrige Wahlbeteiligung, haben den Urnengang nicht ernst genommen. Als wäre ohnehin alles entschieden. Darüber hinaus hatte der einzelne Schwierigkeiten, Kandidaten und Parteien überhaupt voneinander zu unterscheiden. Man wußte eigentlich nicht, wer wofür steht. Das begünstigte die Entscheidung für einen Politclown wie Schirinowski.
Nähere Ergebnisse werden es später zeigen: Gerade in den Randregionen Rußlands konnte Schirinowski die größten Gewinne einfahren. In Provinzen, die sich zu Moskau kritisch verhalten. Und nicht zuletzt in Grenzregionen, die durch die Öffnung unter wirtschaftlichen Druck gerieten; im Fernen Osten, Chinesen und Koreaner, die das Land mit ihren Produkten überschwemmen, während die örtliche, meist alte Nomenklatura im Vergleich zum europäischen Rußland keine Antworten auf die wirtschaftlichen Herausforderungen findet. Natürlich spielt auch für einen Teil der Wähler jenes traditionell russische Moment mit hinein, das vom politischen Führer kostenlose „Wohltaten“ erwartet. Besonders im lange hochsubventionierten Norden Rußlands war das der Fall. Schirinowski bot jedem etwas. Die Kommunisten, die es ihm darin gleichtaten, schnitten schlechter ab. Ihre Gesichter und Versprechungen kennt man.
Deutlich bewiesen die Wahlen das Fehlen einer politischen Mitte in Rußland. Die Polarisierung bleibt erhalten. Das neue Parlament wird sich nicht leichter handhaben als das alte. Nur kann sich dieses auf den Willen des Volkes berufen. Einen eklatanten Fehler haben die „demokratischen“ Kräfte begangen. Statt sich bis zum Wahlgang zur Einigkeit zu verpflichten, führten sie einen Wahlkampf, der sie gegenseitig schwächte. Die Aufsplitterung der Blöcke in einer Gesellschaft ohne soziale Mitte bringt sie jetzt in Turbulenzen.
Grigori Jawlinskis Block „Jabloko“ stemmte sich gegen eine Einheitsliste. Einer ihrer führenden Köpfe, Boldyrew, meinte noch vor kurzem, in der Partei „Rußlands Wahl“ den Hauptgegner zu sehen. Erst in letzter Minute wandten sie sich mit einer gemeinsamen Resolution gegen die „faschistische Gefahr“. Jawlinski und Schachrai betrieben in den Parlamentswahlen ihre vorgezogene Schlacht um die Präsidentschaftsnachfolge Jelzins. Sie sind eitle Gecken, deren politische Positionen im Grunde genommen deckungsgleich sind. Künstliche Gräben wurden ausgehoben, in die sie jetzt selbst zu stürzen drohen. Die Aufsplitterung kann die Reformkräfte zwischen neun und fünfzehn Prozent gekostet haben. Andernfalls hätten sie auf eine stabile Mehrheit verweisen können. Das Getue der politischen Intelligenzija, ihre Selbstgefälligkeit und Selbstverliebtheit brachte Rußland häufiger Übel. Daran hat sich seit Generationen nichts geändert. Jetzt sind sie gezwungen, ihre individuellen Ambitionen zurückzustecken, wollen sie sich nicht von einer kommunistisch-faschistischen Mehrheit ausmanövrieren lassen. Zwar hat sich der Kommunistenführer Gennadi Sjuganow gleich gegen eine Koalition mit den Faschisten ausgesprochen. Geht es um die Macht, dürften diese Prinzipien hinfällig sein. Die Interessenkoalition zwischen Rot und Braun besteht seit langem – hinter verschlossenen Türen und auf der Straße.
Auch Jelzin mußte Vorwürfe hinnehmen, sein Gewicht nicht hinter „Rußlands Wahl“ geworfen zu haben. Er bestand auf seiner „Überparteilichkeit“. Nach dem knappen Wahlausgang mag ihm seine Zurückhaltung zum Vorteil gereichen. Seine Vollmachten reichen aus, um den Kurs fortzusetzen. Dennoch wird er sich zu einigen Kompromissen bereitfinden müssen. Der Sieg eines totalitären Populisten und Faschisten kann nicht mit der Bereitschaft der Russen erklärt werden, wieder einem Führer zu folgen. Rollback-Propaganda à la Schirinowski, das Versprechen, die UdSSR wiedererstehen zu lassen und ähnliche Ungeheuerlichkeiten fallen selbst bei seinen Wählern nicht auf fruchtbaren Humus – lediglich bei Kosaken und anderen „wehrhaften“ Männern. Frauen unterstützen solche Abenteuer nicht. Klaus-Helge Donath, Moskau
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